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Es war der dritte Neumond des Jahres, als das Wesen zum ersten Mal gesehen wurde. Düsterwald, ein abgelegenes Dorf tief im Herzen des dunklen Waldes, lag seit Jahrhunderten im Schatten alter Legenden. Man sprach von einem gehörnten Dämon, der mit jedem Zyklus des schwarzen Mondes erwache – der „Grimmenherr“.

Die ersten Opfer waren Tiere: gerissene Schafe, verstümmelte Hühner. Doch bald verschwanden auch Menschen – lautlos, spurlos. Die Ältesten erinnerten sich an Geschichten aus ihrer Kindheit, an Flüstern am Kaminfeuer, das von einem uralten Fluch sprach. Ein Wesen aus Schatten, geboren aus Schuld und vergessenem Blut.

Niemand wagte sich nach Sonnenuntergang mehr vor die Tür. Doch ausgerechnet die junge Alva, Tochter des Dorfschmieds, stellte sich der Angst. In der Nacht des vierten Neumondes verließ sie ihr Haus – mit nichts als einer alten Lampe und einem Amulett, das ihrer Mutter gehört hatte.

Sie folgte den Spuren tief in den Wald hinein. Dort, zwischen moosbedeckten Steinen und krummen Bäumen, sah sie ihn: Zwei brennende Augen, Hörner wie gewundene Äste, und eine Stimme, die nicht aus einem Mund, sondern aus der Dunkelheit selbst zu kommen schien. „Du bist nicht wie die anderen“, flüsterte es.

Alva erkannte, dass der Grimmenherr kein Tier war – sondern ein Fluch, geboren aus einem uralten Verrat der Dorfgründer. Er war gebunden an den Ort, an die Schuld – und vielleicht, nur vielleicht, konnte er erlöst werden.

Aber was er dafür verlangte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren…

Alva hielt das Amulett fester, als der Grimmenherr sich langsam aus dem Nebel schälte. Sein Körper bestand nicht aus Fleisch, sondern aus dichten Schatten, die sich in ständiger Bewegung befanden. Wo seine Klauen den Boden berührten, welkte das Gras.

„Erlösung…“ grollte das Wesen, während seine Hörner sich wie lebendige Zweige wanden. „Doch alles hat seinen Preis.“

„Was willst du?“ Alvas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Die Wahrheit.“

Ein kalter Wind fuhr durch den Wald. Die Schatten zogen sich zurück, und vor Alva erschien ein Bild: Das Dorf, vor vielen Jahrhunderten. Männer mit Fackeln. Eine Frau, in Ketten. Schreie. Feuer.

Alva sah ihre eigenen Gesichtszüge in jener Frau – einer Heilerin, die der Hexerei bezichtigt und auf dem Altar jenes Waldes geopfert worden war. Die Gründer des Dorfes hatten sich durch Blut einen Schutz versprochen. Doch das Opfer hatte sich gewandelt, hatte Form angenommen.

„Du bist ihr Blut… und ihr Schlüssel.“

Alva taumelte zurück. Sie verstand: Der Grimmenherr war nicht das Böse selbst. Er war das Echo einer Schuld, ein Geist, der Vergeltung forderte.

„Wenn ich dir helfe… was geschieht mit dem Dorf?“

Das Wesen schwieg. Dann, nach einer langen Pause: „Es wird sich erinnern.“

Mit zitternder Hand legte Alva das Amulett in einen alten Steinkreis, der von Wurzeln überwuchert war. Flammen züngelten aus dem Boden. Der Grimmenherr verharrte, als würde er zum ersten Mal zweifeln.

„Erlöse mich“, sagte er, fast flehend.

Und dann begann die Erde zu beben.

Der Boden bebte unter Alvas Füßen. Der alte Steinkreis leuchtete in einem matten, blutroten Licht, als das Amulett zu vibrieren begann. Die Schatten um den Grimmenherrn zogen sich zusammen, wirbelten wie Rauch in einem Sturm. Ein gequältes Stöhnen ging durch die Nacht – es klang nicht wie ein Tier, nicht wie ein Mensch, sondern wie etwas, das viel zu lange geschwiegen hatte.

Alva kniete nieder. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, geflüstert in Träumen:
„Wer Schuld gebiert, muss Wahrheit trinken. Wer Schatten vertreibt, muss Licht opfern.“

Sie nahm eine kleine Klinge aus ihrer Tasche – dieselbe, die einst ihrer Vorfahrin gehörte – und schnitt sich in die Handfläche. Blut tropfte auf das Amulett, das sofort aufloderte. Der Steinkreis erhob sich mit einem ächzenden Geräusch aus dem Boden, als sei er lange vergraben gewesen.

Plötzlich veränderte sich der Grimmenherr.

Seine Hörner begannen zu bröckeln, Schatten fielen in Fetzen von ihm ab, und was darunter zum Vorschein kam, war weder Tier noch Dämon – sondern ein Mensch. Ein alter Mann mit gequältem Blick, dessen Körper von Narben übersät war.

„Ich war der Erste“, flüsterte er. „Der, der sie verraten hat. Der, der ihr Herz dem Wald opferte. Ich wurde zum Hüter meiner Schuld. Jahrhunderte lang.“

Mit einem letzten Blick auf Alva fiel er in sich zusammen – nichts blieb zurück als ein dunkler, staubiger Abdruck im Gras.

Der Wind legte sich.

Doch das Dorf blieb nicht unberührt.

Als Alva zurückkehrte, fand sie Düsterwald verändert. Die Menschen erinnerten sich an Dinge, die sie nie erlebt hatten: Träume von brennenden Scheiterhaufen, von Frauen, die im Wind sangen, von Wurzeln, die nach Händen griffen. Kinder sprachen die Namen längst vergessener Opfer im Schlaf.

Einige flohen. Andere verstummten. Und manche, wie Alva, begannen zu graben – nach Wahrheit, nach Geschichte, nach Gerechtigkeit.

Denn mit dem Ende des Grimmenherrn hatte etwas anderes begonnen: Das Erwachen der Wahrheit.

Der Frühling kam spät in jenem Jahr. Die Bäume im Düsterwald blühten, aber ihre Blüten waren schwarz wie Asche. Der Boden atmete fremd, schwer, als läge etwas darunter begraben, das sich rührte.

Alva blieb im Dorf, obwohl viele gegangen waren. Sie restaurierte die alte Schmiede ihres Vaters, doch die Nächte blieben unruhig. Immer wieder hörte sie die Stimmen der Toten – nicht bedrohlich, sondern traurig, fordernd. Das Ritual hatte den Fluch gebrochen, aber es hatte auch ein Tor geöffnet: zur Erinnerung.

Eines Nachts, als der schwarze Mond erneut über den Baumwipfeln stand, kehrte Alva zum Steinkreis zurück. Der Ort war still. Kein Wind, kein Laut. In der Mitte lag das Amulett – unversehrt, doch verändert. Es war kalt und schwer, als sie es aufhob, und auf der Rückseite war eine neue Inschrift eingraviert:

„Was erlöst wurde, bleibt nicht vergessen.“

In diesem Moment begriff Alva: Der Grimmenherr war fort, doch die Schuld, die ihn erschuf, war Teil der Dorfgemeinschaft geworden. Nicht länger ein Dämon in den Schatten, sondern eine Wahrheit, die in den Herzen weiterlebte.

Am nächsten Morgen schrieb sie einen Brief an alle, die das Dorf verlassen hatten. Sie schilderte die Geschichte, ohne Furcht vor Scham oder Zweifel. Es war Zeit, dass alle wussten, was geschehen war – und was unterdrückt worden war.

Einige Monate später kehrten erste Familien zurück. Nicht aus Nostalgie, sondern um Verantwortung zu übernehmen. Sie errichteten eine Gedenkstätte an der Grenze zum Wald. Kein Kreuz, kein Heldendenkmal – nur ein schlichter Stein mit den Worten:

„Hier ruhen jene, die man vergessen wollte. Wir erinnern uns.“

Alva blieb die Hüterin dieses Ortes – nicht als Priesterin, nicht als Heldin. Sondern als Zeugin.

Und als die Blüten im nächsten Jahr weiß aufgingen, wusste sie: Der Schatten von Düsterwald war gebannt.

Aber das Echo – das würde ewig klingen.

– Ende –

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