Prolog – Wenn das Meer ruft
Es begann mit einem Geräusch. Ein tiefes, kehliges Grollen, das aus dem Nebel kam, als ob das Meer selbst sprechen wollte. Fischer hörten es zuerst – doch keiner sprach laut darüber. Denn wer das Flüstern aus der Tiefe vernahm, veränderte sich.
Kapitel 1: Die Rückkehr nach Gråvik
Der junge Meeresbiologe Elias Holm kehrte nach zehn Jahren in sein Heimatdorf Gråvik an der norwegischen Küste zurück. Der Ort wirkte wie eingefroren in der Zeit: dieselben verwitterten Fischerboote, dieselbe kühle, salzige Luft – und derselbe Schleier aus Schweigen, der über allem lag.
Elias war zurückgekommen, um den rätselhaften Tod seines Vaters zu untersuchen. Der alte Holm war ein erfahrener Fischer gewesen, doch sein Boot war eines Morgens leer an die Felsen gespült worden. Das Logbuch war durchnässt, nur ein letzter Satz blieb lesbar:
„Sie hat mich gerufen.“

Kapitel 2: Das Lied in der Tiefe
Bei einer Nachttauchung in der nahegelegenen Bucht machte Elias eine unheimliche Entdeckung. Tief unten, jenseits der Kelpwälder, hörte er ein summendes Lied – wie aus einer anderen Welt. Die Geräusche waren weder von Walen noch Maschinen. Es war… organisch. Fast weiblich.
Zurück an Land zeigte Elias die Tonaufnahmen einer Kollegin in Bergen. Sie war sichtlich beunruhigt. „Das klingt wie eine Biofrequenz, aber… nicht von einem Tier, das wir kennen.“
In den folgenden Tagen begannen die Dorfbewohner, sich seltsam zu verhalten. Einige behaupteten, im Nebel Silhouetten gesehen zu haben. Andere sprachen von Träumen – von einer Frau mit leuchtenden Augen, die sie ins Meer lockte.
Kapitel 3: Das Wesen
Eines Nachts begab sich Elias erneut in die Bucht, getrieben von einer Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und innerer Unruhe. Als er auf dem Grund einer Spalte tauchte, sah er sie.
Eine Gestalt – halb Frau, halb etwas anderes. Ihre Haut schimmerte bläulich, ihre Augen waren silbern wie flüssiges Metall. Tentakelähnliche Auswüchse bewegten sich träge in der Strömung. Sie sah ihn an, direkt – und er hörte sie.
Nicht mit den Ohren, sondern tief in seinem Kopf:
„Du hast mich gesucht, Elias. Und du bist wie dein Vater… bereit.“

Kapitel 4: Die Wahrheit unter den Wellen
Zurück im Dorf versuchte Elias zu fliehen. Doch das Wesen war bereits in ihm – in seinen Träumen, in seinem Verstand. Er begann zu verstehen: Sie war uralt, älter als jede bekannte Zivilisation. Eine Thalassithea – eine Meerwächterin, erschaffen von den Tiefen selbst, um das Gleichgewicht zu wahren.
Doch etwas war gestört. Der Mensch hatte zu viel genommen, zu tief gebohrt. Die Thalassithea rief nun jene zurück, die das Meer in sich trugen. Elias’ Vater war einer von ihnen. Und Elias war der Nächste.
Kapitel 5: Die letzte Tauchung
In einer stürmischen Nacht ging Elias ein letztes Mal hinaus. Niemand sah ihn je zurückkehren. Am Morgen lag sein Boot verlassen an der Mole, das Seil zerfetzt, als hätte etwas es durchtrennt.
Ein Fischer fand das Logbuch. Darin nur ein einziger Satz:
„Ich habe sie verstanden.“

Epilog – Gråvik heute
Das Dorf ist leer. Die letzten Bewohner gingen oder verschwanden. Am Strand steht ein neues Schild: Betreten verboten – biologische Gefahrenzone.
Doch manchmal – wenn der Nebel vom Meer heraufzieht – hört man ein Summen, tief und fremd. Und manche sagen, man könne eine Gestalt im Wasser sehen.
Die Thalassithea wartet.
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