Kapitel 9 – Die alte Schule
Die Tür der alten Grundschule war nicht verschlossen.
Carla stieß sie auf, zog den Jungen hinein und schloss sofort wieder hinter ihnen.
Der Nebel blieb draußen – vorerst.
Der Flur roch nach Staub, Kreide und nassem Holz. Alte Klassenfotos hingen an der Wand, eingerahmt, vergilbt. Gesichter von Kindern, die längst fort waren.
Oder schlimmer: geblieben.
„Setz dich“, sagte Carla leise. Sie schob ein Regal vor die Tür, zündete eine Kerze an, die sie auf einem Lehrerpult fand.
Das flackernde Licht tanzte über die Tafeln.
An einer davon stand mit Kreide ein Satz, halb verwischt:
„Sie kommen, wenn das Licht stirbt.“
Carla starrte darauf, das Herz pochte.
„Das war hier nicht, als die Schule geschlossen wurde“, flüsterte sie.
Der Junge sagte nichts.
Er saß auf einem alten Stuhl, die Knie an die Brust gezogen. In seinem Blick lag etwas, das sie beunruhigte – nicht Angst, sondern Wissen. In seinem Blick lag etwas, das sie beunruhigte – nicht Angst, sondern Wissen.
„Wie heißt du?“ fragte sie.
„Eli.“
„Eli, du hast gesagt, sie kommen aus dem Boden. Woher weißt du das?“
Er blickte zu Boden.
„Mein Vater hat hier gearbeitet. Beim Steinbruch.“
Carla setzte sich langsam.
„Und?“
„Er hat gesagt, sie haben dort etwas gefunden. Ganz tief unten. Eine Höhle mit Wänden, die atmen. Und … Stimmen.“
Ein Windzug ließ die Kerze flackern.
Von draußen kam ein leises Kratzen, als ob etwas an der Fassade entlangstrich.
Eli fuhr fort, seine Stimme kaum hörbar:
„Er hat gesagt, es war nicht nur Nebel. Es war etwas, das sich bewegt, wenn man hinsieht. Etwas, das Menschen nachmacht. Erst die Stimmen. Dann die Gesichter.“
Carla spürte, wie ihr die Kehle trocken wurde.
„Was ist mit deinem Vater passiert?“
Eli hob langsam den Kopf.
„Er kam zurück. Aber nicht als er selbst.“
Ein dumpfer Schlag an der Tür ließ beide zusammenzucken.
Dann noch einer.
Etwas drückte von außen dagegen. Schwer.
Das Regal ächzte.
Carla griff nach der Taschenlampe, schaltete sie ein – und das Licht fiel auf das Fenster neben der Tür.
Draußen stand jemand.
Alan.
Sein Gesicht direkt am Glas, blass, reglos.
Und hinter ihm – Dutzende weitere.
Kinder. Frauen. Männer.
Alle mit denselben leeren Augen.
Eli flüsterte:
„Sie wollen rein.“
Kapitel 10 – Das Zeichen unter der Tafel
Das Klopfen an der Tür war rhythmisch geworden.
Zuerst unregelmäßig, dann im Takt. Wie ein Herzschlag.
Carla stand mit gezogener Waffe im Dunkeln. Das Kerzenlicht war längst erloschen, die Flamme erdrückt vom Nebel, der sich durch die Ritzen quetschte.
„Zurück, Eli“, flüsterte sie.
Er nickte, kroch hinter einen Schrank.
Dann krachte die Tür auf. Das Regal fiel zur Seite, Staub stieg auf.
Im Türrahmen standen sie – die Menschen aus dem Nebel.
Kein Laut, kein Atem, nur Bewegung. Langsam, gleichmäßig, mechanisch.
Carla feuerte.
Zwei Schüsse hallten, dumpf, fast verschluckt.
Die Gestalten wankten, aber fielen nicht.
Sie zerflossen – wortwörtlich – wie Rauch, der sich wieder zusammenzog.
„Lauf!“ schrie Carla.
Sie riss Eli an der Hand und zog ihn den Flur hinunter. Hinter ihnen rauschte der Nebel wie eine Welle.
Sie erreichten das Klassenzimmer am Ende des Gangs.
Carla trat die Tür auf, verriegelte sie von innen, drehte sich um –
und erstarrte.
An der Tafel stand etwas Neues.
Nicht mit Kreide, sondern eingeritzt.
Tiefe, unregelmäßige Kratzer:
„Tiefer als Erde.
Älter als Licht.“
Unter den Worten war ein Symbol eingeritzt – ein Kreis, in dessen Mitte eine spiralförmige Vertiefung verlief.
Eli starrte darauf.
„Das Zeichen war auch im Steinbruch“, sagte er tonlos. „Auf den Wänden. Es hat gebrannt.“
Carla trat näher.
Die Luft um das Symbol schien zu flimmern, als würde es glühen.
„Was bedeutet es?“
„Mein Vater hat gesagt, es ist ein Tor. Aber kein Tor, das man öffnet – eins, das nie hätte geschlossen werden dürfen.“
Draußen splitterte Glas. Hände drangen durch die Fenster, bleich, formlos.
Carla zog Eli zurück.
Das Licht ihrer Taschenlampe flackerte – und das Symbol begann zu leuchten.
Ein tiefer, vibrierender Ton erfüllte das Gebäude.
Die Wände bebten.
Und plötzlich war da kein Nebel mehr. Kein Schulflur. Keine Fenster.
Nur Dunkelheit.
Und vor ihnen, in der Leere, eine Öffnung. Rund, pulsierend, wie ein Auge.
Eli flüsterte:
„Wir sind zu tief.“
Carla wollte etwas sagen, doch ihre Stimme kam nicht heraus.
Etwas rief sie beim Namen. Nicht laut, nicht in Worten – sondern direkt in ihrem Kopf.
Und dann begann das Auge zu blinzeln.
„Mein Vater hat gesagt, es ist ein Tor. Aber kein Tor, das man öffnet – eins, das nie hätte geschlossen werden dürfen.“
Draußen splitterte Glas. Hände drangen durch die Fenster, bleich, formlos.
Carla zog Eli zurück.
Das Licht ihrer Taschenlampe flackerte – und das Symbol begann zu leuchten.
Ein tiefer, vibrierender Ton erfüllte das Gebäude.
Die Wände bebten.
Und plötzlich war da kein Nebel mehr. Kein Schulflur. Keine Fenster.
Nur Dunkelheit.
Und vor ihnen, in der Leere, eine Öffnung. Rund, pulsierend, wie ein Auge.
Eli flüsterte:
„Wir sind zu tief.“
Carla wollte etwas sagen, doch ihre Stimme kam nicht heraus.
Etwas rief sie beim Namen. Nicht laut, nicht in Worten – sondern direkt in ihrem Kopf.
Und dann begann das Auge zu blinzeln.
Kapitel 11 – Unter der Haut der Welt
Als Carla die Augen öffnete, war alles still.
Kein Nebel, kein Geräusch, kein Wind. Nur Dunkelheit – lebendig, atmend, pulsierend.
Der Boden unter ihr war weich, feucht. Er bewegte sich.
Eli saß neben ihr, starr vor Angst.
„Wo sind wir?“ flüsterte er.
Carla sah sich um. Über ihnen wölbte sich eine gewaltige Kuppel, deren Oberfläche sich leicht bewegte – wie eine Lunge, die atmete. Dünne Lichtadern durchzogen das Dunkel, schimmerten in einem kranken, gelblichen Glanz.
„Das ist nicht mehr die Schule“, sagte sie. „Und nicht mehr Willow Creek.“
Sie gingen langsam voran, Schritt für Schritt.
Die Wände um sie herum waren von Symbolen überzogen – dieselben Spiralen wie an der Tafel, aber älter, tiefer, leuchtend. Und zwischen den Linien lagen Dinge, die wie Gesichter aussahen. Menschliche Gesichter, eingefangen im Gestein, die Augen geöffnet, als würden sie schlafen.
Eli berührte eines davon, vorsichtig.
Ein Zittern ging durch die Wand.
Dann hörten sie es.
Das Brummen.
Aber diesmal war es klar, rhythmisch, fast wie Sprache. Eine uralte Stimme, dumpf, durchdringend:
„Wir waren hier, bevor ihr kamt.“
Carla wich zurück, das Herz raste.
„Wer… seid ihr?“
„Ihr habt uns vergessen. Doch wir erinnern uns an euch. Ihr bautet über uns. Ihr schnittet in die Erde. Ihr habt uns geweckt.“
Der Boden bebte.
Über ihnen öffnete sich die Kuppel – langsam, wie ein Lid, das sich hebt. Dahinter war nichts als ein gigantisches, schwarzes Auge, in dessen Mitte sich Licht drehte wie ein Mahlstrom.
Eli schrie.
Carla zog ihn an sich, doch sie spürte, wie die Luft vibrierte, wie etwas in ihr Kopf drang, Worte ohne Laut:
„Jeder Ort hat eine Tiefe.
Willow Creek ist nur die Oberfläche.“
Vor ihren Augen formte sich im Boden ein Spalt, aus dem Nebel quoll – dichter, dunkler, gefüllt mit Bewegung.
Arme. Gesichter. Schatten, die sich formten und wieder zerflossen.
Carla packte Eli.
„Wir müssen hier raus!“
Aber Eli stand nur da, das Gesicht bleich.
„Ich glaube, sie haben mich schon. Seit dem Tag, als mein Vater zurückkam.“
Da verstand Carla, dass der Junge nicht hustete, weil er Angst hatte.
Sondern weil der Nebel schon in ihm war.
Kapitel 12 – Die Rückkehr
Carla wusste nicht, wohin sie rannte – nur, dass sie rennen musste.
Der Boden unter ihr pulsierte, die Luft zitterte, das Brummen wurde zu einem tiefen Donnern. Überall öffneten sich Risse, aus denen der Nebel quoll wie Blut aus einer Wunde.
Eli folgte ihr taumelnd, seine Haut wirkte blass, fast durchsichtig. In seinen Adern glomm etwas, das an Licht erinnerte.
„Eli!“ schrie sie. „Bleib bei mir!“
Er nickte, aber seine Augen waren glasig.
„Ich kann sie hören“, flüsterte er. „Sie sind so alt, Carla. Sie wollen nur, dass wir uns erinnern.“
„Wir müssen raus hier!“
Sie erreichten eine Art Tunnel, eine schmale, gewundene Passage, deren Wände von flüssigem Licht durchzogen waren. Dahinter sah sie Schatten – Menschen, Tiere, Dinge, die sich bewegten, als gehörten sie zu keiner Welt.
Dann fiel ihr Blick auf das Symbol.
Die Spirale, eingraviert in den Boden, glühend, lebendig.
Darunter vibrierte der Boden so stark, dass sie kaum stehen konnte.
„Das ist der Zugang!“ rief sie.
Sie griff nach Elis Hand, zog ihn auf das Zentrum zu.
Doch da erstarrte er.
Sein Körper zitterte, der Nebel trat aus seiner Haut, aus Mund und Augen, drehte sich spiralförmig um ihn.
„Eli, nein!“
Er sah sie an – und in seinen Augen war etwas, das nicht mehr ganz menschlich war.
„Vielleicht kann ich sie aufhalten. Wenn ich bleibe.“
„Das ist Wahnsinn!“
Er lächelte schwach.
„Mein Vater hat es nicht geschafft. Aber vielleicht kann ich’s besser machen.“
Hinter ihnen öffnete sich die Wand.
Ein Schrei hallte durch die Dunkelheit – kein menschlicher, kein tierischer, sondern etwas Drittes, Urzeitliches.
Das Brummen schwoll an, wurde zu einem Sturm.
Eli trat in die Spirale. Das Licht verschlang ihn, gleißend, grell.
Carla schrie, rannte auf ihn zu – und wurde fortgerissen.
Ein Windstoß, unsichtbar, trieb sie nach hinten, der Tunnel stürzte ein, Steine fielen, das Licht erlosch.
Dann war Stille.
Als Carla wieder zu sich kam, lag sie auf kaltem Asphalt.
Über ihr – Himmel.
Klar, blau, still.
Willow Creek lag vor ihr.
Kein Nebel. Kein Geräusch. Kein Mensch.
Sie richtete sich auf, taumelnd, atmete tief ein.
Der Geruch war verschwunden. Kein Metall, kein Staub – nur frische Luft.
Doch als sie sich umdrehte, sah sie es.
In der Mitte der Main Street – das Symbol.
In den Asphalt gebrannt.
Und in seiner Spirale, klein, kaum sichtbar, ein einzelner Kinderfußabdruck.
Kapitel 13 – Der letzte Morgen
Zwei Tage nach dem Erwachen lag Stille über Willow Creek.
Kein Wind, kein Vogel, kein menschlicher Laut. Nur das ferne Rauschen des Flusses, der träge an den alten Docks vorbeifloss.
Carla saß auf der Treppe des Polizeireviers, die Waffe neben sich, den Blick auf die leere Main Street gerichtet.
Die Sonne stand tief. Ihre Strahlen trafen das Asphaltmuster vor ihr – die Spirale, eingebrannt, unverändert.
Sie war allein.
Oder glaubte es.
Manchmal glaubte sie, etwas im Augenwinkel zu sehen – Bewegung hinter Fenstern, Schatten zwischen den Häusern. Aber wenn sie hinsah, war da nichts. Nur das Licht, das durch den Staub fiel.
Sie hatte versucht, das Funkgerät zu reparieren, vergeblich.
Kein Rauschen, kein Signal.
Als hätte der Rest der Welt beschlossen, dass Willow Creek nicht mehr existierte.
In der Ferne bewegte sich etwas.
Eine Gestalt, klein, aufrecht, langsam.
Carla stand auf, griff nach der Waffe, ging ein paar Schritte vor.
„Eli?“ flüsterte sie.
Die Gestalt blieb stehen.
Zu weit entfernt, um sie zu erkennen – aber klein genug, um ein Kind zu sein.
Dann hob sie die Hand.
Nicht zum Gruß.
Sondern wie jemand, der auf etwas zeigt.
Carla folgte der Geste.
Am Himmel über dem Fluss war ein dünner, grauer Streifen zu sehen.
Kein Rauch. Kein Dunst.
Ein Nebelfaden.
Langsam, unaufhaltsam, kroch er den Hang hinauf.
Carla trat zurück, blickte auf das Symbol im Asphalt.
Es glühte leicht, kaum sichtbar – als würde etwas darunter wieder atmen.
Sie schloss die Augen, atmete tief ein.
Dann drehte sie sich um und ging.
Langsam, schweigend, fort von der Stadt, fort von der Spirale, fort von allem, was Willow Creek einmal war.
Hinter ihr wehte ein Windstoß durch die leeren Straßen.
Er roch nach Regen. Und nach Metall.
Und irgendwo, tief unter der Erde, begann wieder dieses Geräusch.
Leise, vibrierend, uralt.
Das Brummen.
ENDE
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