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Die Stadt hielt den Atem an. Lily Baxters Verschwinden veränderte etwas – nicht nur in den Köpfen der Bewohner, sondern in der Luft selbst. Es war, als hätte die Kuppel reagiert. Die Temperatur fiel um fast zehn Grad. Der Himmel wurde milchig weiß. Kein Sonnenlicht durchdrang mehr die dunstige Hülle, die sich über Chester’s Mill legte.

Linda Parker durchforstete Lilys Zimmer. Auf dem Schreibtisch lagen Kinderzeichnungen – Häuser, Bäume, ihre Eltern. Doch eine Zeichnung stach hervor: ein dunkler Gang, an dessen Ende ein leuchtendes Rechteck stand. Darauf gemalt: Lily selbst, klein und allein, und ein Schatten hinter ihr. Groß. Mit zu vielen Armen.

Auf der Rückseite der Zeichnung stand in Kinderhandschrift:
„Er sagt, er zeigt mir das wahre Spiel.“

Ray, bleich im Gesicht, brachte die Aufnahme der Überwachungskamera aus der Grundschule. Darauf zu sehen: Lily, wie sie früh am Morgen durch den Flur lief – alleine. Zielgerichtet. Dann bleibt sie vor einer Wand stehen. Da ist nichts. Kein Gang. Kein Türspalt.

Und dann – verschwindet sie. Einfach so. Ohne Geräusch, ohne Bewegung. Ein Frame ist sie da – im nächsten nicht mehr.

Linda spielte die Aufnahme immer wieder ab. „Sie wurde geholt“, murmelte sie.

Noch in derselben Nacht begann das Flüstern zurückzukehren – diesmal lauter. Viele hörten es. Ganze Familien erwachten schreiend aus dem Schlaf. Die Stimme sprach nun klarer:

„Ein Leben für die Antwort. Ein Kind für den Weg.“

Die Stadt reagierte mit Angst. Manche wollten die Würfel zerstören. Andere, von Panik getrieben, riefen dazu auf, „das Spiel mitzuspielen“. Ein Mob formierte sich vor der Schule, Fackeln in der Hand, fordernd, blind vor Wut.

Doch Linda ließ niemanden hinein. Sie hatte eine Ahnung – ein Gefühl, das tief in ihr bohrte: Wenn Lily verschleppt wurde, dann nicht, um sie zu töten. Sondern um etwas zu zeigen. Etwas, das sie alle begreifen sollten.

Und in der Nacht darauf – kam ein Geräusch aus dem Tunnel.

Ein leises Kinderlachen.

Und dann Lilys Stimme – glasklar, über jedes Radio in der Stadt:

„Ich bin nicht allein. Aber ihr müsst euch beeilen… bevor sie aufwacht.“

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