Kapitel 12 – Der wahre Täter
Der Wind vom Tollensesee trieb Regen über die Uferstraße, als Kommissarin Brandt vor Bergmanns Haus anhielt.
Das Licht im Wohnzimmer brannte.
Sie stieg aus, der Mantel flatterte, der Griff ihrer Waffe kühl in der Hand.
„Bleiben Sie im Wagen“, sagte sie zu Lenz. „Wenn ich nach fünf Minuten nicht rauskomme, holen Sie Verstärkung.“
Sie ging den schmalen Weg zum Haus.
Die Tür war nicht verschlossen.
„Bergmann?“ Ihre Stimme hallte im Flur wider. „Wir müssen reden.“
Er saß im Sessel, die Zeitung auf dem Schoß, eine Pfeife in der Hand.
„Ich hatte Sie früher erwartet“, sagte er ruhig.
Brandt trat ein, blieb zwei Meter vor ihm stehen.
„Rottmann ist tot. ‚Selbstmord‘, sagen manche. Ich sage: Mord. Und Sie waren der Letzte, der etwas zu verlieren hatte.“
Bergmann legte die Pfeife beiseite, faltete die Hände.
„Sie verstehen das nicht. Ich wollte nur Ordnung halten. Kühn war ein Problem – wie Rottmann. Sie wollten etwas aufdecken, das besser begraben geblieben wäre.“
„Das Leben eines Menschen ist kein Geheimnis, das man einfrieren kann,“ erwiderte sie. „Er hat Beweise gesammelt. Und Sie wollten ihn zum Schweigen bringen.“
Er lachte leise. „Ich? Ich habe niemanden getötet. Ich habe nur zugesehen, wie andere Fehler machten. Ich habe nur versucht, sie zu … korrigieren.“
„Andere?“
„Ja. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ein pensionierter Polizist in seinem Wohnzimmer die Strippen zieht? Ich war nur der Wächter. Die Befehle kamen von oben.“
Brandt fixierte ihn. „Von wem?“
Er schwieg. Nur der Regen prasselte gegen die Scheibe.
Dann sagte er leise: „Sie haben ihn auch schon befragt. Ihren Zeugen. Köhler.“
Brandt blinzelte. „Thomas?“
„Er war der Einzige, der Zugang zur Hütte hatte. Der wusste, wo Kühn seine Beweise versteckte. Und der sie zurückgebracht hat – direkt in meine Hände.“
Brandt trat näher. „Was meinen Sie?“
„Er kam vor einer Woche zu mir. Mit einer Mappe. Alte Fotos, Unterlagen, das Protokoll. Er wollte das Gewissen erleichtern. Aber er wusste nicht, dass ich noch jemanden hatte, der sich um solche Dinge kümmert.“
Brandts Herz schlug schneller. „Wen?“
„Rottmann. Er sollte ihn einschüchtern. Nur, dass es schiefging. Kühn starb – nicht geplant, aber nützlich.“
Sie zog langsam ihre Waffe.
„Und jetzt?“ fragte sie.
Bergmann sah sie an, seine Augen leer, müde. „Jetzt ist alles vorbei. Ich hab meine Schuld bezahlt. Und Köhler … der wird seine noch zahlen.“
Er griff in die Jackentasche. Brandt spannte den Abzug.
Doch statt einer Waffe zog er ein zerknittertes Foto hervor – Kühn, Köhler und er selbst, lachend vor der Ziegelei.
„Er war wie ein Sohn für mich,“ sagte Bergmann leise. „Aber er hat vergessen, dass man manche Dinge nicht wieder auftauen sollte.“
Als Brandt das Haus verließ, war der Regen stärker geworden.
Sie atmete tief durch, griff zum Funkgerät.
„Lenz, richte eine Fahndung nach Thomas Köhler ein. Sofort.“
„Wieso?“, fragte er über Funk.
„Weil er nicht das Opfer ist,“ sagte sie, „sondern das letzte Puzzleteil.“
Kapitel 13 – Tauwetter
Der Morgen war ungewöhnlich mild für den November.
Der Schnee schmolz, kleine Rinnsale zogen sich durch den Waldboden. Die Hütte stand still zwischen den Bäumen, als wäre sie selbst erschöpft von all den Geheimnissen, die sie bewahrt hatte.
Kommissarin Brandt parkte den Wagen am Forstweg, stieg aus und ging den matschigen Pfad hinunter.
Die Tür der Hütte stand offen.
Drinnen, neben der leeren Gefriertruhe, saß Thomas Köhler.
Er hielt ein altes Foto in den Händen – dasselbe, das Bergmann ihr gezeigt hatte. Seine Augen waren gerötet, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich wusste, dass Sie kommen.“
Brandt blieb in der Tür stehen.
„Ich hätte Sie früher holen sollen,“ sagte sie ruhig. „Aber ich wollte wissen, was Sie wirklich vorhatten.“
Thomas nickte langsam.
„Ich wollte ihn nicht töten, Frau Brandt. Das müssen Sie mir glauben. Martin war … mein Freund. Wir hatten gestritten, ja. Er wollte alles offenlegen. Ich hatte Angst, dass uns das beide zerstört. Ich wollte ihn nur reden lassen – nicht ersticken.“
„Aber er ist gestorben.“
„Ja,“ flüsterte Thomas. „Er hat die Hütte mit dem Generator belüftet, ich bin rausgegangen, um Werkzeug zu holen. Als ich zurückkam, war es zu spät. Ich wollte Hilfe holen … aber dann kam Bergmann. Er hat gesagt, ich solle still sein, dass er sich kümmert. Und dann lag Martin – hier – in der Truhe.“
Stille. Nur das Tropfen des tauenden Eises.
Brandt trat näher.
„Sie haben es jahrelang mit sich herumgetragen.“
Er nickte. „Ich dachte, es wäre vorbei. Aber Rottmann kam. Dann der Einbruch. Ich wusste, sie würden mich irgendwann holen. Also bin ich hierher zurückgegangen – an den Anfang.“
Brandt setzte sich ihm gegenüber.
„Sie haben eine Wahl, Thomas. Heute endet es – hier. Nicht mit Vertuschung, sondern mit Wahrheit.“
Er sah sie an, Tränen in den Augen.
„Manchmal friert man Dinge ein, um sie zu bewahren. Aber irgendwann taut alles auf. Auch das, was man vergessen wollte.“
Sie reichte ihm die Handschellen.
Er legte das Foto beiseite, atmete tief ein – und streckte die Hände aus.
Draußen riss die Wolkendecke auf. Ein schwacher Sonnenstrahl fiel auf das Dach der Hütte, das Wasser tropfte rhythmisch von der Dachrinne.
Brandt führte ihn hinaus.
Keiner von beiden sagte etwas. Nur der Wind rauschte, als würden die Bäume leise die Geschichte weitersagen, die sie zu lange verschwiegen hatten.
Am Waldrand blieb Brandt kurz stehen, blickte zurück.
Die Hütte, die Truhe, der Frost – alles lag hinter ihr.
Sie nahm das Funkgerät in die Hand.
„Fall Kühn – abgeschlossen,“ sagte sie. „Täter gefasst.“
Ein Moment Schweigen, dann fügte sie leise hinzu:
„Aber manche Wahrheiten bleiben trotzdem kalt.“
ENDE
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