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Tief im Herzen eines düsteren, vergessenen Waldes, verborgen hinter Nebelschwaden und knorrigen Bäumen, stand ein Pfefferkuchenhaus – verziert mit süßem Zuckerguss, kandierten Fenstern und einem Dach aus Lebkuchenplatten. Es war ein verlockender Anblick, der wie ein Trugbild aus einem alten Märchen wirkte. Doch wer zu nah kam, hörte das Flüstern – unverständliche Stimmen, die aus dem Innern drangen, wie ein Echo vergessener Seelen.

Die alte Hexe, die darin lebte, war kein gewöhnliches Wesen. Ihr Name war Griselda, und sie war älter als die Zeit selbst. Ihre Haut war pergamentartig, ihre Augen leuchteten wie faulige Glut, und ihre Hände, knochig und lang, rührten unablässig in einem Kessel, in dem nie das Gleiche brodelte.

Griselda nährte sich nicht von gewöhnlicher Nahrung – sie lebte von Erinnerungen, von Ängsten, von der Unschuld ihrer Opfer. Und sie hatte eine besondere Vorliebe für Geschwister.

Eines Tages, viele Jahre nachdem die Geschichte von Hänsel und Gretel die Dörfer durchzogen hatte, kamen zwei junge Erwachsene in den Wald zurück. Es waren Hänsel und Gretel – älter, aber gezeichnet. Ihre Kindheit hatte sie verändert. Die Dorfbewohner hatten ihnen nie geglaubt, hielten ihre Geschichte für ein Hirngespinst. Doch die beiden wussten, dass Griselda überlebt hatte. Das Haus war nie verschwunden. Es wartete nur.

„Der Wald hat sich verändert“, murmelte Gretel, als sie zwischen den vermoderten Bäumen hindurchging. „Er lebt… er beobachtet uns.“

„Wir müssen es zu Ende bringen“, sagte Hänsel mit fester Stimme, doch in seinen Augen flackerte Unsicherheit.

Als sie das Pfefferkuchenhaus erneut fanden, sah es genauso aus wie damals – unversehrt, als hätte die Zeit es verschont. Die Fenster leuchteten schwach. Nebel kroch über den moosigen Boden. Und dann hörten sie es: das Flüstern. Erst leise, dann immer lauter. Ihre Namen. Wieder und wieder. „Hääänsel… Greeetel…“

Plötzlich öffnete sich die Tür. Griselda stand da, gebeugt, aber kraftvoll. „Ich wusste, ihr kommt zurück“, krächzte sie. „Eure Seelen sind mit diesem Ort verbunden.“

Die Hexe hatte sich verändert – dunkler, mächtiger. Der Wald selbst schien ihr zu gehorchen. Ranken wanden sich um Bäume, Schatten bewegten sich gegen das Licht. Das Haus, süßlich duftend, pulsierte wie ein lebender Organismus.

Ein verzweifelter Kampf entbrannte. Gretel versuchte, das Haus erneut mit Feuer zu vernichten, doch Flammen verpufften an den Wänden, als ob sie von unsichtbarer Macht verschluckt würden. Hänsel wurde von den Ranken gepackt, seine Schreie hallten durch die Nacht.

Als Griselda sich über Gretel beugte, um die Erinnerung an ihre Kindheit aus ihr herauszusaugen, erkannte Gretel die Wahrheit: Das Haus war nicht nur die Quelle des Bösen – es war das Böse selbst. Und Griselda war sein Diener.

Mit letzter Kraft stürzte Gretel sich in den glühenden Kessel. Eine grelle Explosion aus Licht und Schatten folgte. Das Haus schrie – ein markerschütterndes Kreischen – und zerfiel zu Asche.

Am nächsten Morgen fand ein Jäger die Ruinen. Von Hänsel und Gretel keine Spur. Nur der Duft von verbranntem Zucker und ein flüsternder Wind, der ihre Namen trug.

Und wer sich heute dem Wald nähert, hört noch immer das leise Wispern: „Komm näher… es ist süß hier… so süß…“

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