Kommissar Lukas Reinhardt war gerade im Begriff, den Fernseher auszuschalten, als sein Handy vibrierte.
„Reinhardt“, knurrte er in die Leitung.
„Wir haben einen Leichenfund. Wohnung im dritten Stock, Lindenstraße 14. Sie sollten besser sofort kommen“, sagte die Stimme seines Kollegen Paul Seidel.
Zwanzig Minuten später stand Reinhardt vor dem Altbau. Das Treppenhaus roch nach kaltem Rauch und altem Holz. In der Wohnung erwartete ihn der Anblick, der jede Müdigkeit vertrieb:
Eine Frau lag auf dem Boden des Wohnzimmers. Etwa Mitte dreißig, schwarze Haare, rotes Kleid. Der Fernseher lief stumm, auf dem Tisch ein umgestoßenes Glas Rotwein.
Keine Spuren von Einbruch, kein offensichtlicher Kampf. Nur diese eine Wunde in der Brust. Reinhardt kniete sich hin. „Sauberer Stich, gezielt. Kein Amok, kein Zufall.“
Seidel trat an ihn heran. „Name des Opfers: Clara Weber. Journalistin bei der Berliner Morgenpost. Nachbarn sagen, sie war allein zu Hause.“
Reinhardt nickte, während sein Blick auf ein offenes Notizbuch auf dem Küchentisch fiel.
Zwischen wirren Notizen stand in klarer Schrift:
„Er hat gesagt, er kommt heute.“
Die Spurensicherung fand keinen Fingerabdruck außer denen des Opfers. Der Laptop? Gelöscht. Jeder Datenrest professionell entfernt.
Im Hausflur erzählte eine ältere Nachbarin, sie habe kurz vor Mitternacht schnelle Schritte gehört. „Aber das kommt hier oft vor, Herr Kommissar. Junge Leute gehen feiern.“
Erst ein anderer Nachbar, Herr Kramer aus dem zweiten Stock, brachte Bewegung in den Fall.
„Da war ein Mann hier. Dunkle Kleidung, Kapuze tief ins Gesicht. Ich hab ihn an Claras Tür klopfen sehen. Spät am Abend.“
Die Recherche führte zu einem Namen: Markus Feld. Bauunternehmer. In mehreren Artikeln von Clara Weber tauchte er auf – nicht im besten Licht. Bestechung, Zwangsräumungen, fingierte Verträge.
Reinhardt und Seidel besuchten Feld in seinem Büro. Ein kahlgeschorener Mann mit teurem Anzug empfing sie.
„Ich habe Frau Weber seit Wochen nicht gesehen. Und glauben Sie mir, ich habe genug zu tun, ohne mich mit Journalisten herumzuschlagen.“
Reinhardt lächelte dünn. „Komisch. Ein Zeuge hat Sie gestern Abend an ihrer Wohnung gesehen.“
Felds Miene blieb reglos. Doch bei der Durchsuchung seiner Jacke fand sich ein silberner Schlüsselanhänger – graviert mit den Initialen C.W.
„Sieht schlecht aus für Sie, Herr Feld“, sagte Reinhardt, während er den Schlüsselanhänger auf den Tisch legte.
Feld hob eine Augenbraue. „Schönes Stück, aber nicht meines.“
„Sie hatten es in Ihrer Jacke“, erwiderte Seidel scharf.
Feld lehnte sich zurück. „Die Jacke hing in meinem Wagen, frei zugänglich. Wenn Sie mich festnehmen wollen, tun Sie das. Aber Sie verschwenden Ihre Zeit.“
Reinhardt hasste es, wenn Verdächtige so gelassen blieben. Die Spurensicherung fand tatsächlich keine weiteren Beweise in Felds Büro oder seiner Wohnung. Keine Blutspuren, kein Motiv, das über Claras Artikel hinausging.
Am nächsten Tag brachte die Obduktion einen unerwarteten Hinweis: In Claras Magen fanden sich Reste eines seltenen französischen Rotweins – und Spuren eines Schlafmittels. Der Wein war teuer, nicht das, was Clara sich üblicherweise leistete.
Seidel grub tiefer und stieß auf einen Namen in Claras Telefonprotokoll: Daniel Krüger. Letzter Anruf, nur zwei Stunden vor dem Mord. Krüger war kein Unbekannter – ein Kriminalbeamter aus einer anderen Abteilung.
Krüger wirkte überrascht, als Reinhardt ihn in seinem Büro besuchte.
„Clara? Ja, ich kannte sie. Wir hatten… naja… Kontakt.“ Er wich Reinhardts Blick aus. „Wir haben uns hin und wieder getroffen. Nur privat.“
„Und das Schlafmittel im Wein?“, hakte Reinhardt nach.
Krüger schluckte. „Ich habe ihr eine Flasche geschenkt, ja. Aber nicht, um sie zu… Sie müssen mir glauben, ich habe in dieser Nacht nicht einmal ihre Wohnung betreten.“
Seidel zog eine Augenbraue hoch. „Wo waren Sie dann?“
Krüger grinste bitter. „Fragen Sie meine Freundin. Die wird sich freuen.“
Die Freundin bestätigte das Alibi widerwillig. Wieder kein klarer Täter.
Doch dann meldete sich ein IT-Forensiker bei Reinhardt: Man habe auf Claras gelöschtem Laptop versteckte Daten gefunden – verschlüsselt, aber nicht vollständig unlesbar. Darunter eine Liste von Namen. Ganz oben: Reinhardts eigener Chef, Kriminaldirektor Mertens.
Reinhardt starrte auf den Bildschirm, als hätte er sich verlesen. Doch die Buchstaben blieben unverändert:
Mertens, Joachim – Kriminaldirektor, LKA Berlin.
„Das ist ein schlechter Scherz“, murmelte er. Seidel, der neben ihm stand, sah ihn prüfend an.
„Was hat Clara da recherchiert?“
Der IT-Forensiker schaltete sich ein. „Die Datei stammt aus einer verschlüsselten E-Mail, die sie vermutlich kurz vor ihrem Tod entschlüsselt hat. Die Namen… das sind vermutlich Beteiligte an illegalen Immobiliendeals. Und Mertens steht ganz oben.“
Reinhardt wusste, dass er jetzt vorsichtig sein musste. Mertens war nicht nur sein Vorgesetzter – er war auch ein Mann mit exzellenten Verbindungen in Politik und Wirtschaft.
Am nächsten Morgen rief Mertens Reinhardt in sein Büro.
„Ich habe gehört, Sie wühlen tief in diesem Journalistenfall.“
„Nur meiner Arbeit nachgehend.“
„Halten Sie mich über alles auf dem Laufenden.“ Mertens’ Blick war kalt, bohrend.
Als Reinhardt das Büro verließ, wusste er, dass Mertens ahnte, wie nah er ihm war.
Seidel schlug vor, den Fall „von außen“ zu betrachten – jemanden einzuschalten, dem sie vertrauen konnten.
„Wenn Mertens wirklich verwickelt ist, sind wir beide bald weg vom Fenster.“
Noch am selben Abend stellten Reinhardt und Seidel eine Überwachung vor Claras Wohnung auf. Sie wollten sehen, ob jemand zurückkam, um vielleicht Beweise zu vernichten.
Kurz nach Mitternacht erschien tatsächlich eine Gestalt im Treppenhaus – Kapuze, Handschuhe, schnelle Schritte. Sie betrat die Wohnung, als hätte sie einen Schlüssel.
Reinhardt und Seidel folgten leise. Drinnen kniete der Eindringling vor Claras Schreibtisch, zog eine dünne Mappe hervor. Bevor er sie öffnen konnte, klickten die Handschellen.
Unter der Kapuze: Mertens’ persönlicher Fahrer – ein Mann, der seit Jahren schweigend an der Seite des Chefs stand.
Der Fahrer schwieg beharrlich im Verhörraum. Keine Reaktion auf Drohungen, keine auf Versprechungen. Erst als Reinhardt beiläufig den Namen Clara Weber fallen ließ, zuckte er.
„Ich hab nur Befehle ausgeführt“, sagte er schließlich leise. „Wenn ich rede, bin ich tot.“
„Von wem?“, drängte Reinhardt.
Der Mann hob langsam den Blick. „Sie wissen genau, von wem.“
Am nächsten Morgen stand Mertens in Reinhardts Büro. Ohne Anklopfen.
„Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier treiben?“ Seine Stimme war kalt wie Eis.
Reinhardt hielt seinem Blick stand. „Ich ermittle. Und Sie sind jetzt Teil dieser Ermittlung.“
Mertens lächelte dünn. „Sie haben keine Ahnung, in welchem Spiel Sie stecken. Legen Sie die Sache ad acta – oder Sie verlieren mehr als nur Ihren Job.“
Seidel drängte, sofort zu handeln. „Wir müssen das an die Staatsanwaltschaft geben. Jetzt.“
„Und riskieren, dass Mertens alles vertuscht?“, entgegnete Reinhardt.
In dieser Nacht traf er sich heimlich mit einem alten Freund vom Bundeskriminalamt, der ihm einen geschützten Serverzugang verschaffte. Die verschlüsselten Daten von Claras Laptop wurden dorthin übertragen – mitsamt allen Namen und Beweisen.
Kurz darauf erhielt Reinhardt eine anonyme Nachricht auf seinem privaten Handy:
„Sie haben einen Fehler gemacht. Wir sehen uns bald.“
Zwei Tage später stürmte eine Spezialeinheit das Büro von Mertens. Offiziell ging es um „Verdacht auf Amtsmissbrauch und Beteiligung an kriminellen Geschäften“.
Reinhardt sah zu, wie Mertens abgeführt wurde – und wie dieser ihm ein letztes, durchdringendes Lächeln schenkte.
Claras Mord war damit nicht vollständig aufgeklärt, doch die Fäden, die zu ihrem Tod führten, lagen nun offen.
Und Reinhardt wusste: Das Spiel war noch nicht vorbei.
Ähnliche Artikel
Mord in der stillen Wohnung – Teil 3: Der Boss
Zurück im Präsidium durchsuchten Reinhardt und Seidel jede Akte, jede…
Der Tote an der Oberbaumbrücke – 1 – 7
Kapitel 1 – Fund an der OberbaumbrückeDie Spree war still…
Der Tote an der Oberbaumbrücke – Kapitel 21 – 27
Kapitel 21 – Schlesisches TorDie U-Bahnstation lag still in der…
