Kapitel 1 – Fund an der Oberbaumbrücke
Die Spree war still in dieser Nacht. Nur das schwache Rauschen des Windes und das leise Klatschen von Wasser gegen die Steinpfeiler der Oberbaumbrücke brachen die Stille. Neonlichter spiegelten sich zitternd auf der Wasseroberfläche, während ein einsamer Jogger die Brücke überquerte.
Er blieb abrupt stehen, als er unten am Ufer etwas Dunkles sah – ein Umriss, der nicht ins Bild passte. Zögernd lief er die Treppe hinunter, sein Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Der Gestank von nassem Asphalt und etwas Eisenhaltigem, Metallischem, legte sich schwer in seine Lungen. Blut.
Dort, im Schatten der Brücke, lag ein Körper. Ein Mann, Mitte fünfzig, Gesicht bleich, Augen offen – als hätten sie im Moment des Todes noch etwas Unfassbares gesehen. Die Kleidung wirkte unscheinbar, dunkle Jacke, abgetragene Jeans. Doch etwas fiel sofort ins Auge: an der Brusttasche blitzte ein silbernes Polizeiabzeichen.
Der Jogger zückte zitternd sein Handy und wählte den Notruf. Minuten später durchbrachen Blaulichter die nächtliche Ruhe. Ein Streifenwagen hielt, zwei Uniformierte sprangen heraus und sicherten den Bereich. Kurz darauf trafen die Kriminalbeamten ein: Kommissar Thomas Bundschuh und seine Partnerin Jana Meier.
Bundschuh ging in die Hocke, musterte die Leiche schweigend, während Jana den Fundort fotografierte. Schließlich griff er nach dem Abzeichen, drehte es im Licht seiner Taschenlampe. Die Nummer war klar erkennbar – und doch ließ ihn ein kaltes Gefühl den Atem anhalten.
„Das … kann nicht sein“, murmelte er.
„Was meinst du?“, fragte Jana, die sich über seine Schulter beugte.
Bundschuh sah sie ernst an. „Dieses Abzeichen gehörte einem Kollegen, der seit fast dreißig Jahren tot ist.“
Ein Moment der Stille hing zwischen ihnen, nur unterbrochen vom Surren der Kameras der Spurensicherung. Jana runzelte die Stirn, dann flüsterte sie:
„Und warum trägt es dann dieser Mann – der offenbar erst vor wenigen Stunden gestorben ist?“
Zwischenspiel – Der Jogger
Sein Puls raste noch immer, obwohl er längst nicht mehr lief. Der Jogger stand ein paar Meter abseits, während die Beamten den Fundort absperrten. Das blaue Flackern der Streifenwagen schnitt wie kalte Messer durch die Nacht. Er fröstelte, obwohl er verschwitzt war.
Er hatte schon einiges in seinem Leben gesehen – aber dieser Anblick würde ihn verfolgen. Das Gesicht des Toten, dieses starre, entsetzte Blinzeln ins Nichts … als hätte der Mann im letzten Augenblick etwas gesehen, das niemand sehen sollte.
„Ihr Name?“ fragte eine junge Polizistin und riss ihn aus seinen Gedanken. Er nannte ihn, stockend. Sie schrieb alles in ihr Notizbuch, fragte nach der Uhrzeit, ob er Geräusche gehört habe, Schritte, Stimmen. Doch er konnte nur den Kopf schütteln.
Während er sprach, wanderten seine Augen zurück zum Tatort. Und da bemerkte er etwas, das ihn sofort wieder frösteln ließ: Ein Stück Papier, halb in den Schlamm getreten, direkt neben der Brücke. Nur ein kleiner Fetzen, auf dem mit schwacher, verlaufener Tinte eine Zahl stand: 1994.
Er wollte es schon aufheben, doch da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Es war der ältere Kommissar, der ihn mit ernster Miene ansah. „Lassen Sie das“, sagte er knapp, „das gehört zur Spurensicherung.“
Der Jogger nickte schnell, trat zurück. Doch in seinem Inneren war etwas geschehen. Ein Gefühl, als hätte er in etwas hineingeschaut, das nicht für seine Augen bestimmt war.
Als er später nach Hause lief, konnte er die Zahl nicht vergessen. 1994. Das Jahr, in dem er selbst gerade eingeschult worden war. Ein Jahr, das für ihn so weit entfernt schien – und das für den Toten offenbar nie aufgehört hatte.
Kapitel 2 – Spuren im Schatten
Die Spurensicherung hatte den Bereich unter der Oberbaumbrücke mit hellen Baustrahlern ausgeleuchtet. Das kalte Licht ließ die Szene beinahe unwirklich wirken: nasser Beton, Schmutz, das dunkle Wasser der Spree – und mittendrin der leblose Körper.
Bundschuh stand mit verschränkten Armen daneben, die Zigarette zwischen den Fingern längst vergessen, als Meier sich bückte und ein Stück Papier aus dem Schlamm in eine Beweismappe legen ließ.
„1994“, murmelte sie, während sie die Zahl las. „Was soll das bedeuten?“
„Vielleicht ein Hinweis“, antwortete Bundschuh knapp. „Oder nur ein Datum. Aber warum hier, warum jetzt?“
Er ließ den Blick über die Brücke schweifen. Touristen und Partygänger würden am Tag wieder über das Pflaster trampeln, Selfies schießen, lachen. Doch in dieser Nacht wirkte der Ort wie eine Bühne – und ihr Opfer der einzige Schauspieler.
Die Gerichtsmedizinerin, Dr. Kessler, trat hinzu. „Männlich, etwa Mitte fünfzig. Todeszeitpunkt grob geschätzt zwischen 22 und 1 Uhr. Keine Ausweispapiere. Das Abzeichen … ungewöhnlich. Ich kümmere mich darum, sobald wir ihn in die Rechtsmedizin bringen.“
„Ungewöhnlich reicht nicht“, entgegnete Bundschuh. „Dieses Abzeichen gehört zu einem Kollegen, der 1994 für tot erklärt wurde.“
Kessler hob die Augenbrauen, schwieg jedoch.
Meier trat neben Bundschuh. „Dann haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder jemand benutzt ein altes Abzeichen, um uns in die Irre zu führen – oder der Tote ist tatsächlich dieser verschwundene Polizist.“
Bundschuh nickte langsam. „Und wenn Letzteres zutrifft … dann stellt sich die Frage, wo er all die Jahre war. Und warum er erst jetzt wieder auftaucht – tot.“
Die Spurensicherung hatte inzwischen auch den Boden rund um die Leiche abfotografiert. Ein Mitarbeiter rief: „Hier! Fußspuren, frisch, aber teilweise verwischt.“
Meier ging in die Hocke, betrachtete die Abdrücke im nassen Schlamm. „Größe 43, vielleicht 44. Sportschuhe. Und hier … ein zweites Muster, kleiner.“
Bundschuhs Stirn legte sich in Falten. „Also war er nicht allein.“
Dr. Kessler gab Anweisung, die Leiche abzutransportieren. Als die Trage unter Blaulicht im Wagen verschwand, wehte der Wind durch die Bögen der Brücke. Für einen Moment schien es, als würde die Spree selbst flüstern – als wolle sie Geheimnisse preisgeben, die jahrzehntelang unter der Oberfläche geschlummert hatten.
Bundschuh sah Meier an, die das Papier mit der Zahl noch einmal betrachtete. „1994“, sagte er leise. „Das ist kein Zufall. Das ist ein Zeichen.“
Kapitel 3 – Schatten in den Akten
Das Großraumbüro des LKA wirkte in dieser Nacht beinahe gespenstisch leer. Nur vereinzelt brannten Schreibtischlampen, das Surren der Computer und das leise Ticken einer Uhr waren die einzigen Geräusche.
Bundschuh ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen, während Meier einen Stapel Ordner auf den Tisch knallte. „Die Personalakten aus den 90ern“, erklärte sie knapp. „Ich habe die Registrierung zum Abzeichen gefunden. Es gehörte einem Hauptkommissar Dieter Voss.“
Bundschuhs Miene verfinsterte sich. „Den Namen kenne ich.“
„Dann erzähl.“
Er rieb sich die Schläfen, als müsse er ein altes Gespenst heraufbeschwören. „Voss verschwand 1994. Offiziell: vermisst. Inoffiziell hieß es, er sei in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Kontakte ins Milieu, Bestechungsgelder, Schutzgelderpressung. Doch nichts wurde je bewiesen. Man fand nie eine Leiche.“
Meier blätterte durch die vergilbten Seiten. „Hier steht: letzte Sichtung am 12. Juni 1994. Dann Funkstille. Fall wurde ein Jahr später zu den Akten gelegt.“
Sie schob ihm ein Foto zu. Ein Mann in Uniform, streng, aber mit kalten Augen. „Und wenn der Tote von der Oberbaumbrücke wirklich Voss ist … dann war er die letzten dreißig Jahre irgendwo da draußen.“
Bundschuhs Blick blieb an dem Foto hängen. „Oder jemand hat ihn all die Jahre kontrolliert. Und jetzt hat er seinen Zweck erfüllt.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ein Kollege vom Spurendienst steckte den Kopf herein. „Wir haben die Ergebnisse vom Papierfetzen. Die Tinte ist alt, aber das Papier selbst neueren Datums. Jemand hat ‚1994‘ bewusst aufgeschrieben – wahrscheinlich in den letzten Wochen.“
Meier zog scharf die Luft ein. „Also kein altes Relikt. Sondern eine Botschaft.“
Bundschuh stand auf, ging zum Fenster. Die Stadtlichter spiegelten sich im Glas, weit hinten die Silhouette der Oberbaumbrücke. „Jemand will, dass wir zurück ins Jahr 1994 schauen. Und wenn das stimmt … dann steckt mehr dahinter, als ein einfacher Mord.“
Kapitel 4 – Obduktion
Der Raum der Rechtsmedizin war grell erleuchtet, die Kacheln weiß, der Geruch nach Desinfektionsmittel beißend. Dr. Kessler stand bereits in voller Montur bereit, als Bundschuh und Meier den Saal betraten.
„Sie kommen gerade recht“, sagte sie kühl und deutete auf den Körper, der auf dem Edelstahl-Tisch lag.
„Dann schießen Sie los“, forderte Bundschuh.
Kessler nickte. „Der Mann ist tatsächlich etwa Mitte fünfzig. Der Todeszeitpunkt liegt bei höchstens 24 Stunden zurück. Todesursache: massive innere Blutungen durch stumpfe Gewalt gegen den Brustkorb. Jemand hat ihn brutal geschlagen – mit voller Absicht, um zu töten.“
Meier trat näher. „Und die Spuren?“
Kessler zog die Decke zurück. Auf den Rippen zeichneten sich deutliche Hämatome ab. „Die Form der Verletzungen ist interessant. Kein Schlagwerkzeug, kein Unfall. Es sieht aus, als hätte jemand ihn mit bloßen Händen traktiert – gezielt und mit enormer Kraft.“
Bundschuh hob eine Augenbraue. „Bloße Hände? So kräftig schlägt kein normaler Mensch.“
„Das dachte ich auch.“ Kessler griff nach einem weiteren Bericht. „Doch es gibt noch mehr: Der Körper zeigt alte Verletzungen. Abgeheilte Brüche an den Handgelenken, den Knien, und … hier.“ Sie deutete auf den Rücken. „Spuren von mehrfachen Schnittwunden, mindestens zwanzig Jahre alt.“
Meier starrte die Stellen an. „Das sieht nach Folter aus.“
„Genau“, bestätigte Kessler. „Dieser Mann war in seinem Leben längere Zeit Gefangener. Wahrscheinlich über Monate oder Jahre.“
Für einen Moment herrschte Stille im Raum. Nur das Summen der Neonröhren war zu hören.
„Und dann noch das hier“, fuhr Kessler fort. Sie hielt eine kleines Plastiktütchen hoch. Darin befand sich etwas Metallisches. „Im Magen des Toten habe ich ein Fragment gefunden. Ein Stück eines alten Schlüsselanhängers, mit der eingravierten Jahreszahl … 1994.“
Meier sog hörbar die Luft ein. „Er hat es geschluckt?“
„Oder es wurde ihm eingeflößt.“
Bundschuhs Blick verfinsterte sich. „Jemand wollte sicherstellen, dass wir uns auf dieses Jahr konzentrieren.“
Kessler nickte, während sie das Tütchen zurücklegte. „Egal, wer ihn umgebracht hat – er wusste, was er tat. Das ist kein spontaner Mord. Das ist eine Botschaft.“
Kapitel 5 – Rückkehr zur Brücke
Der Regen hatte in der Nacht eingesetzt und die Pflastersteine der Oberbaumbrücke glänzten wie schwarzes Glas. Bundschuh und Meier standen erneut am Spreeufer, diesmal ohne Spurensicherung, nur mit ihren eigenen Lampen.
„Wenn er hier abgelegt wurde, gibt es einen Weg her“, murmelte Meier und leuchtete über den schlammigen Boden.
„Oder er wurde hier getötet“, erwiderte Bundschuh, die Hände tief in den Manteltaschen. „Manchmal ist der einfachste Ort auch der dreisteste.“
Meier ging ein paar Schritte weiter, kniete sich hin. „Hier – Reifenspuren. Sie verlaufen Richtung Brückenbogen.“
Bundschuh folgte ihrem Lichtkegel. „Lieferwagen? Oder Kleintransporter.“
„Und hier.“ Meier deutete auf den Boden neben den Spuren. Ein dunkler Fleck im Matsch, kaum sichtbar. Sie tunkte einen Wattestäbchen-Test hinein. Das kleine Röhrchen färbte sich binnen Sekunden rötlich. „Blut.“
Bundschuh sog scharf die Luft ein. „Also wurde er hierher gebracht. Vielleicht schwer verletzt – vielleicht schon tot.“
Sie folgten den Spuren unter die Brücke. Dort, wo das Licht kaum noch hinkam, entdeckten sie eine alte Metalltür. Verrostet, halb mit Graffiti übersprüht.
„Was ist das?“ fragte Meier.
Bundschuh blies Rauch in die kalte Luft. „Einer der alten Zugangsschächte. Früher liefen hier Versorgungsgänge. Manche führen bis zu den Kellern alter Speicherhäuser.“
Meier drückte gegen die Tür. Sie knarrte, als gäbe sie gleich nach, doch das Schloss hielt.
„Wir brauchen einen Schlüsseldienst oder den technischen Dienst“, meinte sie.
Bundschuh sah sie schweigend an. Dann zog er sein Taschenmesser und stieß die Klinge ins rostige Schloss. Nach ein paar Sekunden knackte es, die Tür sprang auf. Ein modriger Geruch wehte ihnen entgegen – feucht, erdig, alt.
Sie richteten die Lampen hinein. Ein schmaler Gang zog sich unter der Brücke hindurch, mit tropfenden Rohren an der Decke.
„Scheiße“, flüsterte Meier. „Wenn er hier unten war … dann könnte das der Ort sein, wo er festgehalten wurde.“
Bundschuh trat einen Schritt hinein. Die Schritte hallten gespenstisch wider. An der Wand schimmerte etwas im Licht. Er kniete sich hin und wischte mit dem Handschuh über den Beton. Rillen, eingeritzt. Zahlen.
„1994“, murmelte er.
Meier sah ihn an, die Lampe zitternd in ihrer Hand. „Immer wieder diese Zahl.“
Bundschuh richtete sich auf. „Das ist kein Mordfall, Jana. Das ist ein Spiel. Und jemand spielt es schon seit verdammt langer Zeit.“
Ähnliche Artikel
Der Mann in der Truhe – Kapitel 5 – 8
Kapitel 5 – Die Spur zur TankstelleDie Neonröhren über den…
Mord in der stillen Wohnung – Teil 1 – Der Anruf in der Nacht
Kommissar Lukas Reinhardt war gerade im Begriff, den Fernseher auszuschalten,…
Der Tote an der Oberbaumbrücke – Kapitel 21 – 27
Kapitel 21 – Schlesisches TorDie U-Bahnstation lag still in der…
