Kapitel 9 – Unter Druck
Thomas Köhler saß im Vernehmungsraum, die Hände gefaltet, der Blick leer auf die Tischplatte gerichtet.
Vor ihm lagen zwei Fotos – eines zeigte Martin Kühn, das andere die Baustelle aus der alten Akte.
Kommissarin Brandt betrat den Raum, legte den Mantel ab und setzte sich ihm gegenüber.
„Herr Köhler“, begann sie leise, „ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich weiß, dass Sie und Martin Kühn mehr verband als nur eine alte Arbeitsstelle.“
Thomas sagte nichts. Nur der Sekundenzeiger der Wanduhr tickte laut in die Stille.
„Sie waren beide in der Nachtschicht, als ein Mann in der Ziegelei starb. Peter Rottmann hat es als Unfall gemeldet. Aber Kühn wollte reden – und Sie?“
Er hob langsam den Kopf. Seine Augen waren gerötet, als hätte er die Nacht nicht geschlafen.
„Ich wollte, dass es vorbei ist“, sagte er leise.
Brandt beugte sich vor. „Was genau war passiert?“
Ein Zittern lief über seine Lippen.
„Es war kalt, damals. Wie jetzt. Wir haben Überstunden geschoben, weil Rottmann Druck machte. Einer von den Jungs – Heiko – ist in die Trockenkammer gefallen. Die Temperatur lag bei fast zweihundert Grad. Er war sofort tot.“
Er atmete schwer.
„Rottmann wollte es vertuschen. Es hätte die ganze Firma ruiniert. Kühn war wütend, wollte zur Polizei. Ich hab versucht, ihn aufzuhalten – nicht, weil ich auf Rottmanns Seite war, sondern … weil ich Angst hatte.“
„Angst vor wem?“
„Vor Bergmann. Dem Polizisten. Der war damals öfter in der Ziegelei. Er hat dafür gesorgt, dass das Protokoll ‚angepasst‘ wurde. Kühn wusste das. Er hat Beweise gesammelt. Aber irgendwann war er weg. Niemand hat mehr über ihn gesprochen.“
Brandt schwieg. Sie ließ die Worte sacken, spürte, wie sich die Puzzleteile langsam fügten.
„Und die Hütte?“
„Sein Rückzugsort. Da hat er seine Sachen versteckt. Papiere, Notizen. Er hat immer gesagt: ‚Wenn ich verschwinde, findest du die Wahrheit im Eis.‘“
Brandt stand auf.
„Sie wissen, dass Sie sich strafbar machen könnten, wenn Sie damals geschwiegen haben?“
Thomas nickte. „Ich weiß. Aber ich war jung. Und niemand hätte mir geglaubt.“
Sie trat ans Fenster. Draußen schneite es, leise und gleichmäßig.
„Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann ist Rottmann nicht der Einzige, der was zu verbergen hat. Bergmann lebt noch – und ich wette, er weiß, was Kühn in der Hütte gesucht hat.“
Thomas sah sie an, seine Stimme kaum hörbar.
„Dann finden Sie’s heraus. Bevor jemand anders es wieder vergräbt.“
Später, in Brandts Wagen, lag das Foto auf dem Beifahrersitz.
Drei Männer.
Einer tot, einer gebrochen – und einer, der alles vertuscht hatte.
Sie startete den Motor, drehte den Scheibenwischer an.
Auf dem Display blinkte eine neue Nachricht:
Unbekannte Nummer:
„Hören Sie auf zu graben, Frau Brandt. Manche Dinge bleiben besser eingefroren.“
Brandt starrte auf das Display.
Dann legte sie den Gang ein – und fuhr los.
Kapitel 10 – Das verschwundene Protokoll
Das Haus von Ex-Kommissar Karl Bergmann lag am Ufer des Tollensesees.
Ein gepflegter Garten, akkurat geschnittener Rasen, Fenster mit weißen Vorhängen – das perfekte Bild eines unbescholtenen Ruheständlers. Nur das alte Polizeiwappen, das noch über der Garage hing, erinnerte an frühere Zeiten.
Brandt klingelte. Es dauerte, bis sich die Tür öffnete.
Ein Mann Mitte siebzig, kräftig gebaut, wachsame Augen.
„Kommissarin Brandt“, stellte sie sich vor. „Ich möchte mit Ihnen über den Fall Wolfsruh sprechen. Ziegelei. 2017.“
Bergmanns Miene blieb reglos. „Das ist acht Jahre her. Unfall. Nichts weiter.“
„Einer der Männer von damals ist tot. Martin Kühn. Und die Umstände sprechen gegen einen Unfall – damals wie heute.“
Er lachte leise. „Sie wissen, Frau Brandt, in meinem Beruf hab ich viele gesehen, die ihre Schuld verdrängen wollten. Der Köhler war einer davon.“
„Ich rede nicht über Schuldgefühle, sondern über ein verschwundenes Protokoll.“
Sein Blick verhärtete sich. „Ich hab keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“
Brandt nahm eine Mappe aus ihrer Tasche und legte sie auf den Tisch.
„Das ist die Originalakte aus dem Archiv. Aber Seite 7 fehlt – das Vernehmungsprotokoll mit Ihrer Unterschrift. Es existiert in keinem digitalen Register. Nur der Verweis: ‚Entnommen am 23.05.2017 durch KHK Bergmann.‘“
Ein Zucken ging über seine Gesichtszüge. Nur kurz. Dann lächelte er wieder.
„Wenn Sie etwas nicht finden, bedeutet das nicht, dass es nie existiert hat. Vielleicht haben Sie ja in der falschen Schublade gesucht.“
Brandt lehnte sich zurück.
„Oder jemand hat dafür gesorgt, dass es verschwindet.“
„Was glauben Sie, was Sie hier tun?“, fragte er kühl. „Die Vergangenheit ist abgeschlossen. Niemand will, dass Sie sie wieder aufreißen.“
„Doch“, sagte sie leise. „Ich.“
Später, im Präsidium.
Brandt betrat das Beweisarchiv – kaltes Neonlicht, metallene Regale, der Geruch von Papier und Staub.
Sie ging direkt zum Fach „Fall Kühn“. Die Beweisstücke waren ordentlich verpackt: Kassenzettel, Anhänger, Tatortfotos.
Doch als sie die Liste durchging, blieb sie abrupt stehen.
Beweisstück Nr. 4 – Notizzettel aus Kühns Jackentasche – fehlte.
„Was zum …“ Sie überprüfte den Kasten zweimal, dann den Umlaufplan.
Der letzte Eintrag: „Entnommen 14:22 Uhr – Brandt, J.“
Ihre Augen verengten sich. Sie war zu dieser Zeit bei Bergmann gewesen.
„Lenz!“
Ihr Kollege kam angerannt.
„Irgendjemand hat sich als ich eingetragen und Beweise entwendet. Kameraaufzeichnungen sofort!“
Minuten später flackerten die Monitore im Sicherheitsraum.
Ein Mann im grauen Mantel, Basecap tief ins Gesicht gezogen, trat durch die Schleuse.
Er bewegte sich ruhig, zielstrebig, wusste genau, wohin er wollte. Die Kamera erwischte nur ein kurzes Profil.
Brandt hielt inne. „Vergrößern.“
Das Bild war unscharf, aber deutlich genug.
Sie erkannte den Kiefer, die Haltung – und die Zigarette zwischen den Fingern.
„Rottmann.“
Noch in derselben Nacht fuhr Brandt los.
Die Straßen glänzten vom Regen, das Blaulicht schnitt durch die Dunkelheit.
Am Ortsausgang von Feldberg stand Rottmanns Wagen verlassen am Straßenrand, Motor noch warm.
Keine Spur von ihm.
Auf dem Beifahrersitz lag eine leere Plastiktüte – und darunter, sorgfältig zusammengefaltet, das verschwundene Protokoll.
Nur eine Zeile war mit Kugelschreiber dick unterstrichen:
„Zeuge Köhler bestätigte, dass Vorarbeiter Rottmann den Unfall absichtlich ausgelöst haben könnte.“
Brandt atmete tief ein.
Der Kreis schloss sich. Aber noch fehlte jemand im Bild.
Und sie wusste, wer das war.
Kapitel 11 – Das zweite Opfer
Der See lag still unter dem grauen Morgenhimmel.
Ein Dunst hing über dem Wasser, als hätte die Nacht selbst den Atem angehalten.
Zwischen den Schilfhalmen blinkte das Licht einer Taschenlampe, Stimmen hallten über die Oberfläche.
„Da treibt was!“ rief einer der Taucher.
Kommissarin Brandt stand am Ufer, die Hände tief in den Manteltaschen. Neben ihr Lenz, blass, mit zusammengekniffenen Augen.
Ein Boot zog langsam den Fund ans Ufer – das Wrack eines alten Kombis, halb vom Wasser verschluckt. Die Scheiben zersplittert, die Tür verzogen.
Drinnen: ein lebloser Körper.
„Rottmann,“ sagte Lenz leise.
Der Gerichtsmediziner beugte sich über den Toten.
„Motor läuft noch, Gaspedal blockiert. Sieht nach Kohlenmonoxid aus. Alles spricht für Suizid.“
Brandt schwieg. Sie starrte auf die Windschutzscheibe, wo Kondenswasser gefroren war. Mit dem Finger fuhr sie über die Innenseite, bis eine Spur sichtbar wurde – Buchstaben, mit zittriger Hand in das Glas geschrieben:
„Er weiß alles.“
„Das ist kein Abschiedsbrief,“ murmelte Brandt. „Das ist eine Warnung.“
Zwei Stunden später, im Präsidium.
Das forensische Team hatte Rottmanns Kleidung und Handy ausgewertet. Kein Abschiedsbrief, keine Fingerabdrücke außer den eigenen.
Doch auf dem Beifahrersitz lag ein Umschlag – adressiert an Jana Brandt.
Sie öffnete ihn vorsichtig.
Drinnen ein einziger Zettel:
„Ich wollte ihn nur aufhalten. Er hat gedroht, alles öffentlich zu machen. Ich schwöre, ich war nicht allein.“
Brandt legte den Zettel auf den Tisch, sah Lenz an.
„‚Er‘ meint Kühn. Aber wer war der andere?“
„Bergmann?“ fragte Lenz.
Brandt nickte. „Oder jemand, der über ihm stand.“
Später in der Gerichtsmedizin.
Dr. Henning kam mit ernster Miene auf sie zu.
„Ich hab etwas Interessantes. Rottmann hatte Spuren von Diazepam im Blut – Beruhigungsmittel, hohe Dosis. Er war kaum bei Bewusstsein, als das Auto ins Wasser rollte.“
„Das heißt?“
„Das heißt, jemand wollte, dass es wie ein Suizid aussieht.“
Brandt trat ans Fenster, sah hinaus auf die graue Stadt.
„Er weiß alles“, flüsterte sie. „Aber jetzt schweigt er – für immer.“
Am Abend fuhr sie an den See zurück. Der Wind hatte aufgefrischt, Wellen schlugen gegen den Steg.
Sie kniete sich hin, tauchte den Blick in die Dunkelheit.
Etwas trieb ans Ufer – ein kleines, silbernes Feuerzeug. Gravur auf der Seite:
„K.H.B.“
Brandt hielt es unter die Taschenlampe.
K.H.B. – Karl Heinrich Bergmann.
Sie schloss die Hand darum.
„Dann sind wir jetzt zwei, die alles wissen,“ murmelte sie.
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