Kapitel 5 – Die Spur zur Tankstelle
Die Neonröhren über den Monitoren surrten leise, als Kommissarin Brandt in der Videoauswertung des Polizeipräsidiums stand.
Auf dem Bildschirm lief die Überwachungskamera einer Tankstelle an der B96 – der letzte bekannte Ort, an dem Martin Kühn lebend gesehen wurde. Das Datum stimmte: drei Tage vor seinem Tod.
Brandts Kollege, Kriminaloberkommissar Lenz, spulte das Material zurück.
„Da“, sagte er und deutete auf das Bild. „23:17 Uhr. Das Kennzeichen: NB-R 1426. Das ist Kühns alter Ford Transit.“
Kühn trat ins Bild, Tankrüssel in der Hand. Er wirkte ruhig, konzentriert. Dann – auf Sekunde 17 – kam ein zweiter Mann ins Bild. Dunkle Jacke, Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er sprach kurz mit Kühn, stieg anschließend auf der Beifahrerseite ein.
„Zoom auf den Beifahrer“, befahl Brandt.
Lenz schüttelte den Kopf. „Zu unscharf. Die Kamera ist alt. Ich kann nur sagen: Männlich, groß, kräftig.“
Brandt presste die Lippen zusammen. „Und wer hat zu der Zeit noch getankt?“
„Nur zwei weitere Fahrzeuge. Ein Kleintransporter und ein Lieferwagen – beide identifiziert. Keine Verbindung zu Kühn.“
Sie beugte sich über den Ausdruck des Kennzeichens. „Und die Adresse?“
„Der Transit war noch auf Martin Kühn selbst zugelassen. Aber das ist das Interessante: Laut Kfz-Register wurde er vor sechs Tagen als gestohlen gemeldet – von einem Herrn Weber aus derselben Gemeinde.“
Brandt sah auf. „Weber? Der Heizungsbauer?“
„Genau der.“
Sie atmete tief durch. „Also haben wir ein gestohlenes Auto, einen toten Mann und eine Hütte, die dem Toten gehörte. Und irgendwo dazwischen: ein Treffen, das keiner überleben sollte.“
Zwei Stunden später stand Brandt vor der Tankstelle.
Die Luft war kalt, der Boden mit Schneematsch bedeckt. Im Inneren des kleinen Shops flimmerte eine Überwachungskamera über der Tür.
Der Kassierer, Anfang zwanzig, nervös, stellte den Kaffeebecher ab.
„Ja, ich erinnere mich. Der Mann mit dem grauen Wagen – war spät dran. Hat bar bezahlt. Und der andere … na ja, ich dachte, die kennen sich.“
„Warum?“ fragte Brandt.
„Weil er ihm auf die Schulter klopfte. So kumpelhaft. Und dann sind sie zusammen weggefahren.“
Brandt nickte. „Noch irgendwas aufgefallen?“
„Er – also der mit der Kapuze – hat vorher telefoniert. Er sagte: ‚Bin gleich da.‘“
Brandt notierte es. Der Tonfall des Kassierers ließ keinen Zweifel: Er hatte das Gespräch gehört, nicht nur erraten.
Als sie wieder draußen war, sah sie auf die Straße hinaus. Der Verkehr rauschte vorbei – unscheinbar, gleichförmig, wie immer.
Doch in ihrem Kopf formte sich ein Bild:
Jemand hatte Kühn hierher gelockt. Jemand, der wusste, dass er dem Mann vertraute.
Und irgendwo dort draußen, dachte sie, fuhr der zweite Mann weiter – mit einer Geschichte, die unter Eis begraben lag.
Kapitel 6 – Das Dorf schweigt
Die Straße nach Wolfsruh war schmal und von kahlen Bäumen gesäumt.
Ein Dutzend Häuser, ein kleiner Dorfladen, eine verlassene Bushaltestelle – mehr gab es hier nicht.
Doch in den Gesichtern der Menschen lag etwas, das Brandt sofort kannte: Misstrauen.
Seit dem Fund in der Hütte war das Dorf in Aufruhr. Trotzdem wollte niemand etwas gesehen haben. Niemand wusste etwas. Niemand kannte Martin Kühn.
Brandt betrat den kleinen Laden. Eine Glocke über der Tür klingelte.
Hinter der Theke stand eine ältere Frau mit grauem Dutt, der Blick vorsichtig, abwartend.
„Kommissarin Brandt, Kriminalpolizei,“ stellte sich Brandt vor. „Ich habe ein paar Fragen zu einem Ihrer ehemaligen Nachbarn – Martin Kühn.“
Die Frau zögerte, dann zuckte sie mit den Schultern. „Der alte Kühn? Der war ein Eigenbrötler. Ist eines Tages einfach verschwunden. Hat sich keiner gewundert.“
„Wirklich niemand?“
„Naja … man hat gemunkelt. Manche sagten, er hätte Schulden gehabt. Andere, er hätte was mit der Polizei zu tun gehabt. Ich weiß nichts Genaues.“
Brandt sah sich um. Zwei Männer am Stehtisch verstummten, sobald sie den Ausweis der Kommissarin sahen.
Einer von ihnen – kräftig gebaut, schmutzige Arbeitskleidung – senkte den Blick, als Brandt ihn ansprach.
„Ihr Name?“
„Weber.“
„Der mit dem gestohlenen Transit?“
Ein kurzes Nicken. „Ja. War mein Wagen. Hab ihn letzte Woche früh nicht mehr in der Einfahrt gehabt. Dachte, ein Jugendstreich oder so. Hab’s gemeldet.“
„Kannten Sie Martin Kühn?“
Er zögerte. „Vom Sehen. Hat mal bei uns Heizungsrohre bestellt. Ist lange her.“
„Und der Nachbar – Thomas Köhler?“
„Der? Der hat früher öfter mit Kühn zu tun gehabt. Die haben zusammen in der alten Ziegelei gearbeitet. Aber fragen Sie ihn lieber selbst.“
Brandt notierte, bedankte sich und trat wieder hinaus in den Nebel.
Auf dem Rückweg zum Auto zog sie ihr Handy hervor.
„Lenz, ich will alles über diese Ziegelei. Beschäftigte, Eigentümer, Unfälle – alles. Und leg mir bitte eine zweite Akte zu Thomas Köhler an.“
Am Nachmittag stand sie vor dessen Haus.
Der Himmel hing tief, feiner Schnee fiel. Köhler öffnete widerwillig. Der Hund bellte im Hintergrund.
„Schon wieder Sie“, sagte er leise.
„Ich fürchte, ja.“ Brandt trat über die Schwelle. „Wir müssen noch einmal über Martin Kühn reden.“
Thomas wich ihrem Blick aus. „Ich hab doch schon alles gesagt.“
„Eben nicht.“ Brandt deutete auf ein vergilbtes Foto auf dem Regal – zwei Männer auf einer Baustelle, lachend, mit Bierflaschen in der Hand. Einer davon: Thomas. Der andere: eindeutig Martin Kühn.
„Sie haben ihn gekannt. Gut sogar.“
Thomas’ Kiefermuskeln spannten sich. „Das war früher. Lange her. Wir haben zusammen gearbeitet, ja. Danach nicht mehr.“
„Und warum haben Sie das verschwiegen?“
„Weil es nichts bedeutet!“
Brandt ließ die Stille wirken. Dann sagte sie ruhig:
„Er ist in einer Truhe gestorben, die in einer Hütte stand, die ihm gehörte – und die direkt hinter Ihrem Grundstück liegt. Sie haben ihn entdeckt. Sie waren früher Kollegen. Und jetzt wollen Sie mir sagen, das sei Zufall?“
Thomas atmete schwer. „Ich schwöre, ich hab nichts getan. Ich wollte helfen.“
„Dann fangen Sie damit an“, entgegnete sie kühl.
Draußen im Nebel bellte der Hund erneut.
Und irgendwo tief im Wald, so schien es, hallte das Echo eines Motors nach – leise, kurz, wie ein Schatten, der sich bewegte.
Kapitel 7 – Die Nacht der Geräusche
Es war kurz nach Mitternacht, als Thomas Köhler erwachte.
Der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Holzrahmens, Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Doch irgendetwas war anders – ein Geräusch, das nicht zum Sturm passte.
Ein dumpfes Poltern. Dann Stille.
Wieder – diesmal näher.
Er setzte sich auf, lauschte. Bruno, der Hund, knurrte leise vom Flur aus.
Thomas griff nach der Taschenlampe und zog leise die Tür auf. Ein schwacher Lichtstrahl tanzte über die Tapete, blieb auf dem Türgriff der Werkstatt stehen. Er war halb heruntergedrückt.
Langsam drückte er dagegen. Das Scharnier quietschte.
Drinnen – völlige Dunkelheit. Der metallische Geruch von Öl und Eisen lag in der Luft.
„Hallo?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Keine Antwort. Nur der Wind.
Er leuchtete über die Werkbank: Werkzeug verstreut, ein alter Laptop offen, der Bildschirm schwarz.
Dann fiel sein Blick auf den Boden. Eine nasse Schuhspur – groß, schwer, frisch. Sie führte zur Hintertür.
Thomas’ Herz raste. Er riss sie auf, trat hinaus in den Regen – nichts. Nur der Wald, schwarz und endlos.
Doch hinter ihm, aus dem Haus, hörte er plötzlich das Knacken eines Bodendielenbretts.
Er drehte sich ruckartig um.
„Wer ist da?!“
Bruno bellte laut, dann ein Scheppern – Glas splitterte.
Thomas stürzte ins Wohnzimmer. Das Fenster stand offen, die Gardine flatterte im Wind. Draußen im Dunkel bewegte sich ein Schatten, hastig, lautlos, verschwand zwischen den Bäumen.
Thomas rannte hinaus, barfuß, der Regen peitschte ins Gesicht. Nur für Sekunden sah er den Lichtschein einer Taschenlampe zwischen den Stämmen, dann war alles still.
Er blieb stehen, keuchte.
Sein Blick fiel auf den Boden – dort, im Matsch, glitzerte etwas: ein Metallanhänger. Er hob ihn auf, wischte den Dreck ab.
Ein kleiner, eingelassener Buchstabe: „M“.
Am nächsten Morgen war Kommissarin Brandt wieder da.
Der Regen hatte aufgehört, die Luft roch nach nassem Holz.
Thomas übergab ihr den Anhänger, seine Hände zitterten.
„Ich schwöre, ich weiß nicht, wer das war.“
Brandt drehte das Stück Metall zwischen den Fingern. „‚M‘ – wie Martin Kühn?“
Thomas nickte. „Oder wie jemand anderes.“
„Sie glauben, jemand will Ihnen Angst machen?“
„Ich glaube“, sagte Thomas leise, „jemand will, dass ich mich erinnere.“
Brandt sah ihn an – diesmal länger, prüfend.
„Dann wird’s Zeit, dass wir beide herausfinden, woran.“
Draußen, zwischen den Bäumen, flog ein Vogel auf – erschreckt, als hätte auch er etwas gehört, das besser ungehört geblieben wäre.
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