Linda fiel. Nicht körperlich – eher geistig. Als hätte jemand die Schwerkraft ihres Bewusstseins gelöst. Kein Gefühl von Raum oder Zeit. Nur Licht, das zuckte wie Blitze hinter geschlossenen Augen, und eine Kakophonie aus Stimmen, Erinnerungen und fremden Gedanken.
Dann: Stille.
Sie lag in etwas Weichem. Es fühlte sich an wie Gras, aber kühl und leblos. Als sie die Augen öffnete, war sie nicht mehr in der Kammer unter der Schule.
Sie war woanders.
Über ihr wölbte sich ein fremder Himmel – nicht Tag, nicht Nacht, sondern wie eine blutunterlaufene Dämmerung, die sich nicht entscheiden konnte. Schwarze Türme ragten in der Ferne empor, schief, als wären sie in Zeitlupe zusammengebrochen. Über dem Boden schwebten Splitter – von Spiegeln, von Häusern, von Erinnerungen. Ein Schweben zwischen Traum und Alptraum.
Linda stand auf. Ihre Schritte hallten auf unsichtbarem Boden. Nichts fühlte sich real an – und doch war alles messerscharf in ihrer Wahrnehmung.
Dann hörte sie wieder Lilys Stimme.
Nur war es nicht eine Stimme. Es waren viele – alle Lilys. Flüsternd, schreiend, singend, lachend.
Sie drehte sich im Kreis. Die Landschaft veränderte sich mit ihr. Chester’s Mill tauchte auf – aber verzerrt. Die Häuser standen kopfüber. Menschen gingen rückwärts. Der Himmel flackerte wie ein Fernseher ohne Empfang.
Linda stolperte nach vorn, auf ein Haus zu, das ihrem eigenen glich. Doch bevor sie es erreichen konnte, wurde sie zurückgerissen – nicht körperlich, sondern geistig. Etwas hatte sie bemerkt. Etwas Großes.
Sie fiel auf die Knie, als eine Präsenz sich in ihr Bewusstsein schob. Ein Wesen, alt wie das Universum selbst, doch ohne Form. Es sprach nicht in Worten, sondern in Bildern, Gefühlen, Zuständen:
„Beobachtet. Gewogen. Geteilt.“
„Deine Angst ist ehrlich. Dein Wille ist fest. Aber du bist… unrein.“
Linda keuchte. Ihre Gedanken flimmerten. Sie spürte, wie Erinnerungen aus ihr gerissen wurden – Kindheit, erste Liebe, der Tod ihres Vaters – alles durchsucht wie Seiten in einem Buch.

Dann: ein neues Bild.
Lily – diesmal wirklich Lily – allein, in einem gläsernen Raum. Umgeben von weiteren Kindern. Sie atmete. Sie weinte. Aber sie lebte.
Linda starrte das Bild an – und ein Gefühl bohrte sich in ihr fest:
Wenn sie zurück will, muss sie das Spiel gewinnen.
Ein letzter Gedanke blitzte durch ihren Kopf, bevor alles um sie herum zersplitterte:
Das hier ist kein Test. Es ist eine Auswahl.
Und dann wurde alles schwarz.

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