Kapitel 5 – Die Tiefe des Nebels
Der Nachmittag hing grau und schwer über Willow Creek, als Carla Hensley das Absperrband am Steinbruch erneut durchtrat.
Die anderen waren längst weg.
Sie hatte gesagt, sie wolle „noch einmal einen Blick auf den Felsen werfen“, aber in Wahrheit wusste sie selbst nicht genau, warum sie blieb. Vielleicht, weil sie Alans Stimme noch immer im Kopf hörte. Vielleicht, weil sie nicht glauben wollte, dass er einfach verschwunden war.
Sie ging langsam den Pfad hinunter. Unter ihren Stiefeln knirschte der Kies, das Brummen vibrierte in der Luft, kaum hörbar, aber stetig – wie das Atmen eines Tieres, das man lieber nicht wecken sollte.
Die Sonne stand tief. Kein Wind, keine Vögel. Nur Nebel.
Carla blieb stehen, als sie unten am Grund des Steinbruchs ankam.
Hier roch es noch stärker nach Metall und Erde, als wäre der Boden selbst verbrannt. Sie richtete den Lichtkegel ihrer Taschenlampe auf den Boden – dort, wo der graue Staub am dichtesten lag.
Etwas glitzerte.
Sie kniete sich hin, fuhr mit den Fingern darüber. Es fühlte sich an wie Glas, scharfkantig, warm.
Dann sah sie: Es war kein Glas. Es war Haut. Durchsichtig, dünn, wie abgeworfen.
Ein Rascheln ließ sie hochfahren.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
„Alan?“ rief sie.
Der Schall verschluckte sich im Nebel.
Dann sah sie ihn.
Zwanzig Meter entfernt, halb im Dunst, stand eine Gestalt. Groß, aufrecht, still.
Sie sah aus wie ein Mensch – bis sie sich bewegte. Zu fließend, zu schnell.
Carla hob die Waffe.
„Sheriff Pierce?“
Keine Antwort. Nur dieses Summen, das tiefer wurde, lauter, fast so, als käme es aus ihr selbst.
Dann ein Ruck – ihre Taschenlampe flackerte, ging aus.
Und in der Dunkelheit hörte sie es.
Nicht mehr das Brummen.
Etwas anderes. Etwas, das sich bewegte.
Ein Schritt.
Noch einer.
Näher.
Sie wich zurück, tastete nach dem Funkgerät, aber nur Rauschen. Das Rauschen klang diesmal anders – wie Stimmen.
Viele Stimmen. Flüsternd, bruchstückhaft.
„… Alan … tiefer … nicht allein …“
Carla rannte.
Sie stolperte, fiel hin, schlug sich das Knie auf, rappelte sich wieder hoch.
Hinter ihr ein Geräusch wie Schaben auf Stein, gefolgt von einem tiefen Keuchen.
Sie erreichte die Anhöhe, warf einen Blick zurück –
und schwor, sie sah, wie sich der Nebel hob.
Wie eine Hand.
Wie Finger, die sich langsam um den Kraterrand legten.
Kapitel 6 – Etwas kriecht nach Willow Creek
Carla fuhr, so schnell sie konnte.
Der Nebel hing schwer auf der Straße, die Reifen quietschten auf nassem Asphalt. Zweimal dachte sie, etwas husche über die Straße – Schatten, zu schnell, um sie zu erkennen.
Ihr Atem ging stoßweise. Der Funk rauschte nur noch. Kein Kontakt zur Zentrale, keine Verbindung nach draußen.
Als sie die Main Street erreichte, lag die Stadt in einer gespenstischen Stille.
Die Lichter der Tankstelle flackerten, der Diner war geschlossen – Mabels Schild drehte sich langsam im Wind. Ein Radio lief irgendwo, verzerrt, nur Fetzen einer Wetterwarnung: „… ungewöhnliche Nebelbildung … bitten, in den Häusern zu bleiben …“
Carla stieg aus, die Hand an der Waffe, und lief über die Straße.
Am Straßenrand stand ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, barfuß, im Pyjama.
Er starrte in den Nebel, der aus der Richtung des Flusses kam.
„Hey! Alles okay bei dir?“ rief Carla.
Der Junge drehte sich langsam um.
Seine Augen waren weit aufgerissen, als hätte er etwas gesehen, das kein Kind sehen sollte.
„Sie kommen“, flüsterte er.
„Wer?“
Er zeigte hinter sie.
Carla drehte sich um – und für einen Moment glaubte sie, der Nebel würde leben. Er wogte, formte Wellen, und aus seinem Inneren blitzte kurz etwas auf. Etwas, das wie eine Hand aussah. Oder wie etwas, das Hände einmal nachahmte.
Dann fiel das Licht der Tankstelle aus.
Willow Creek versank in Dunkelheit.
Carla packte den Jungen, zerrte ihn in ihren Wagen. Der Motor sprang erst beim dritten Versuch an.
Sie raste Richtung Polizeistation, das Lenkrad fest umklammert, der Junge stumm auf dem Beifahrersitz.
„Was hast du gesehen?“ fragte sie, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
„Sie sind unter uns“, murmelte er tonlos. „Erst im Boden. Dann im Wasser. Jetzt im Nebel.“
Carla spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.
Als sie die Station erreichte, waren die Fenster dunkel.
Niemand antwortete auf ihr Klopfen.
Sie trat die Tür auf.
Im Flur flackerte das Notlicht.
An der Wand – eine Handabdruck.
Grau, dünn, wie aus Staub.
Und darunter, in krakeligen Buchstaben, stand ein Wort:
„Tiefe.“
Kapitel 7 – Die Stimmen im Funk
Das Polizeirevier von Willow Creek war ein altes Backsteingebäude, solide, gebaut in den Siebzigern, damals, als man noch glaubte, Ziegel könnten alles aufhalten.
Jetzt, im flackernden Notlicht, wirkte es wie ein Grab.
Carla schob den Jungen ins hintere Büro. „Bleib hier, egal was passiert.“
Er nickte, wortlos, die Hände um eine alte Decke geklammert.
Im Funkgerät auf dem Schreibtisch knackte es.
Rauschen.
Dann eine Stimme.
Verzerrt, dumpf, aber eindeutig menschlich.
„Carla…“
Sie erstarrte.
„Alan?“
„… geh nicht raus … sie hören dich …“
Dann wieder Rauschen, begleitet von einem tiefen, vibrierenden Ton, der den Boden zum Zittern brachte. Carla riss das Funkgerät vom Tisch und schaltete es aus.
Draußen prasselte Regen gegen die Scheiben, aber der Nebel wich nicht. Im Gegenteil – er drückte sich an die Fenster wie etwas Lebendiges.
Ein Schatten huschte vorbei. Ein weiterer folgte.
Carla zog die Jalousien herunter, verriegelte die Türen, schob einen Aktenschrank davor.
In der Zelle hinten begann plötzlich jemand zu sprechen.
„Lass mich raus“, sagte eine Stimme.
Sie fuhr herum.
Die Zellentür war leer. Kein Gefangener.
„Lass mich raus, Carla.“
Diesmal kam es von der anderen Seite des Flurs.
Wieder niemand da.
Ihr Atem beschleunigte sich.
„Das ist nicht echt“, murmelte sie. „Nicht echt, Hensley.“
Aber dann flackerte das Licht – und sie sah im Reflexionsglas des Fensters eine Gestalt.
Alan.
Blass, reglos, mit leerem Blick.
Sein Mund bewegte sich, ohne Ton, dann plötzlich mit einem Satz, der sie erstarren ließ:
„Siehst du sie jetzt?“
Das Licht erlosch.
Das Funkgerät sprang wieder an.
Aus dem Rauschen lösten sich hunderte Stimmen, flüsternd, übereinander, unverständlich – und doch wie ein Chor aus der Tiefe.
„Willow Creek… tiefer… tiefer… tiefer…“
Carla griff nach der Taschenlampe, leuchtete durch den Raum –
und sah, dass der Nebel durch die Ritzen der Tür sickerte.
Er kam nicht mehr von draußen.
Er kam von unten.
Kapitel 8 – Kein Weg zurück
Der Nebel kroch durch die Ritzen der Tür wie kalter Atem.
Carla spürte, wie die Luft im Raum dichter wurde, schwer, als würde jedes Einatmen etwas mit sich bringen – etwas Fremdes.
Der Junge hinter ihr begann zu husten, leise, dumpf.
„Wir müssen raus“, sagte sie, griff nach ihrer Taschenlampe, nach der Dienstwaffe, nach dem Schlüsselbund. Der Schrank vor der Tür ließ sich nur schwer beiseiteschieben.
Das Brummen unter den Füßen war jetzt konstant, wie das tiefe Summen einer Maschine unter der Erde.
Als sie die Tür aufstieß, schlug ihr der Nebel entgegen – kalt, feucht, lebendig.
Er bewegte sich, als hätte er eine Richtung, einen Willen.
Carla zog den Jungen fest an sich, trat hinaus in die Straße.
Willow Creek war verschwunden.
Wo einst Häuser, Laternen und das Diner standen, war jetzt nur noch eine milchige, formlos wogende Masse.
Ab und zu tauchten Silhouetten auf – Schatten von Menschen, die still standen, unbeweglich, halb im Nebel versunken.
„Nicht hinschauen“, flüsterte sie.
Der Junge nickte.
Doch er drehte sich trotzdem kurz um – und sah, dass einer der Schatten sich bewegte.
Langsam, ruckartig, als würde er im Wasser treiben.
Carla zog ihn mit sich, Richtung Süden, wo die Straße zur Brücke über den Fluss führte. Vielleicht, dachte sie, vielleicht gibt es dort noch klares Land.
Doch die Brücke war nicht mehr da.
Nur der Nebel. Und darunter – Dunkelheit. Eine schwarze, vibrierende Tiefe, aus der etwas glitzerte wie Schuppen oder Glas.
„Was ist das?“ fragte der Junge mit zittriger Stimme.
Carla antwortete nicht.
Sie spürte, dass sie beobachtet wurden.
Aus dem Nebel trat eine Gestalt.
Menschlich. Und doch nicht.
Sie trug Alans Uniform.
Aber das Gesicht war falsch. Zu glatt, zu still, die Augen leer wie Milchglas.
„Alan?“ hauchte sie.
Das Ding lächelte.
Ein zu breites, zu gleichmäßiges Lächeln.
Dann sprach es – mit zwei Stimmen gleichzeitig:
„Du hättest nicht tiefer gehen sollen.“
Carla hob die Waffe, schoss.
Der Schuss hallte dumpf, und der Nebel sog das Geräusch einfach auf.
Kein Einschlag. Kein Blut. Nur das Brummen, jetzt lauter, pulsierend, fast wie ein Herzschlag.
Sie packte den Jungen.
„Lauf!“ schrie sie.
Sie rannten.
Hinter ihnen glitt die Gestalt lautlos über den Asphalt, während sich aus dem Nebel weitere Formen lösten – Hände, Gesichter, Körper ohne Schatten.
Und irgendwo in der Tiefe von Willow Creek, tief unter den Straßen, begann etwas zu erwachen.
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