Kapitel 1 – Der Frost im Wald
Es war kurz nach halb sieben, als Thomas Köhler das Licht in der alten Hütte am Waldrand sah.
Seit Jahren stand sie leer – verstaubt, verwittert, vergessen. Niemand hatte dort etwas verloren. Doch an diesem grauen Novembermorgen flackerte hinter der schmutzigen Fensterscheibe ein schwaches Licht, so als würde jemand eine Taschenlampe hin- und herbewegen.
Thomas blieb stehen. Der Boden unter seinen Stiefeln war gefroren, das Laub knackte leise. Eigentlich war er nur mit dem Hund unterwegs, wie jeden Morgen. Aber irgendetwas an diesem Licht ließ ihn frösteln, und das lag nicht nur an der Kälte.
Er näherte sich der Hütte. Die Tür stand halb offen, der Wind zerrte an den rostigen Angeln. Drinnen roch es nach abgestandenem Rauch, nach feuchtem Holz – und nach etwas, das ihm sofort die Kehle zuschnürte.
„Hallo? Ist da jemand?“ Seine Stimme hallte dumpf zurück. Keine Antwort.
In der Ecke brummte leise ein alter Stromgenerator, der das Licht im Raum speiste. Daneben – eine große weiße Gefriertruhe. Der Deckel war halb angelehnt, und auf dem Metall sammelte sich Raureif. Thomas trat näher, zögernd, die Hand an der Kante. Ein unruhiges Pochen breitete sich in seinem Hals aus.
Er hob den Deckel.
Einen Moment lang verstand sein Gehirn nicht, was seine Augen sah: eine menschliche Hand, steif, blass, zwischen gefrorenen Fleischpaketen und Eisplatten. Dann sackte er zurück, stieß gegen den Generator, der klirrend zu Boden fiel.
Draußen bellte der Hund.
Thomas stolperte ins Freie, das Handy in der Hand, die Finger zitternd. Er wählte die 110, während die Hütte hinter ihm im grauen Morgenlicht dalag – still, wie ein Grab aus Holz und Frost.
Kapitel 2 – Spuren im Frost
Zehn Minuten später war das Heulen der Sirenen durch den Wald zu hören.
Zwei Streifenwagen kamen über den schlammigen Waldweg, gefolgt von einem dunklen Transporter der Spurensicherung. Blaulicht flackerte zwischen den kahlen Ästen, während feiner Nieselregen auf die Motorhauben tropfte.
Thomas stand abseits, den Blick starr auf die Hütte gerichtet. Ein junger Beamter versuchte, ihn zu beruhigen, aber seine Hände zitterten unaufhörlich.
„Sie sagten, Sie haben das Licht gesehen und dann … die Truhe geöffnet?“ fragte Hauptkommissarin Jana Brandt, Mitte vierzig, scharfer Blick, dunkles Haar streng zum Zopf gebunden.
Thomas nickte. „Ich wollte nur nachsehen. Ich dachte, vielleicht … jemand hat sich verletzt oder eingebrochen.“
Brandt musterte ihn, als wolle sie in seinem Gesicht lesen, ob da mehr war als bloße Neugier.
„Wann war das zuletzt, dass hier jemand gewohnt hat?“
„Jahre her. Ein alter Jäger, glaube ich. Danach stand alles leer.“
Während Brandt sprach, gingen zwei Kriminaltechniker in weißen Overalls zur alten Hütte. Kurze Zeit später drang ein metallisches Klacken heraus – die Kamera, die jede Einzelheit festhielt. Einer der Männer öffnete erneut den Gefrierdeckel, und kalter Dampf stieg auf.
„Männlich“, murmelte einer. „Etwa Mitte fünfzig. Keine sichtbaren Verletzungen.“
„Gefroren, aber nicht lange“, ergänzte der andere. „Ich schätze, maximal zwei, drei Tage.“
Brandt trat näher, blieb aber an der Schwelle stehen. „Wer immer das getan hat, wusste, was er tat“, sagte sie leise. „Die Stromzufuhr ist improvisiert, aber effektiv. Und das Licht war wohl absichtlich sichtbar – fast wie eine Einladung.“
Draußen sog Thomas hörbar die Luft ein.
„Eine Einladung?“ fragte er, doch Brandt antwortete nicht. Sie starrte auf die Truhe, auf die Hand, die noch immer aus dem Eis ragte.
„Lassen Sie die Umgebung absuchen“, wies sie ihr Team an. „Fußspuren, Reifenspuren, irgendwas. Ich will wissen, wer heute früh hier war – und warum.“
Ein Windstoß fegte über den Wald, trug den Geruch von kaltem Metall und Erde mit sich. Irgendetwas sagte ihm, dass das hier nicht der Anfang war – sondern das Ende einer Geschichte, die viel früher begonnen hatte.
Kapitel 3 – Die Identität des Toten
Der Morgen hatte längst dem bleigrauen Mittag Platz gemacht, als die Spurensicherung den Körper aus der Truhe hob.
Eiskristalle rieselten zu Boden, jedes Geräusch klang dumpf in der stickigen Luft der Hütte. Die Kamera klickte in gleichmäßigem Rhythmus, während Kommissarin Brandt den Blick nicht von dem Toten abwandte.
„Tatzeit vermutlich vor zwei bis drei Tagen“, sagte der Gerichtsmediziner, Dr. Ralf Henning, ohne aufzusehen. „Keine äußeren Verletzungen, keine offensichtlichen Spuren von Gewalt. Wir nehmen ihn mit – die genaue Todesursache gibt’s erst nach der Obduktion.“
Brandt nickte knapp.
„Und der Schlüsselbund?“
„Alt. Messing, teils verrostet“, antwortete einer der Techniker. „Ein Schlüssel trägt ein eingraviertes ‘M.K.’.“
Die Kommissarin runzelte die Stirn. „M.K.? Gut. Geben Sie’s gleich an die Spurenauswertung weiter.“
Draußen, zwischen den Fahrzeugen, stand Thomas Köhler. Der Regen hatte zugenommen, die Decke war durchnässt.
Brandt trat zu ihm.
„Herr Köhler, Sie sagten, die Hütte stand seit Jahren leer?“
„Ja. Keiner wollte sie. Der letzte Besitzer war, glaub ich, vor über zehn Jahren weggezogen.“
„Name?“
„Weiß ich nicht genau. Irgendwas mit Kühn … oder Kröger vielleicht.“
Brandt sah kurz auf. „Kühn?“
„Ja, könnte sein. Warum?“
„Weil wir genau diesen Namen gerade auf einem Schlüssel gefunden haben.“
Thomas wich einen Schritt zurück. „Das … das kann Zufall sein. Ich hab den Namen nur so in Erinnerung.“
Brandt hielt seinem Blick stand. „Möglich. Aber ich hab gelernt, dass Zufälle selten zufällig sind.“
Sie notierte sich etwas in ihrem Block, dann drehte sie sich zu einem Kollegen um.
„Lass’ das Einwohnermeldeamt checken, ob ein Martin Kühn aus dieser Gegend gemeldet war oder vermisst wird. Und prüf alte Grundbucheinträge zur Hütte.“
Drinnen verstummte das Klicken der Kamera. Der Leichensack wurde verschlossen.
Die Luft draußen war klamm, schwer, als Brandt an der Hütte vorbeiging und ihre Hand kurz über die raue Holzfassade legte.
„Irgendjemand wollte, dass wir ihn finden“, sagte sie leise.
„Oder jemand wollte, dass wir denken, wir hätten ihn gefunden“, entgegnete ihr Assistent.
Brandt blickte noch einmal auf den Wald hinaus – kalt, reglos, voller Schatten.
„Dann fangen wir besser an zu graben“, murmelte sie. „Und nicht nur im Boden.“
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