Es war ein grauer Herbstmorgen, als Reinhardt und Seidel zum Ufer der Spree gerufen wurden. Ein altes Lagerhaus, seit Jahren leerstehend, stand im dichten Nebel. Vor dem Gebäude wartete bereits die Spurensicherung.
„Drinnen“, sagte ein Beamter knapp.
In einer Ecke der Halle lag ein Mann – tot, sauber erschossen. Keine Ausweise, keine Papiere, nur ein Handy in der Jackentasche. Der Geruch von Öl und kaltem Metall lag in der Luft.
Das Merkwürdigste: Neben der Leiche stand eine offene Werkzeugkiste, davor ein Schlüsselbund. Unter den Schlüsseln: ein kleiner silberner Anhänger mit den Initialen C.W.
Reinhardt und Seidel sahen sich an.
„Das ist kein Zufall“, murmelte Seidel. „Clara Weber ist wieder im Spiel.“

Die Obduktion ergab, dass der Tote seit weniger als 24 Stunden tot war. Die Kugel stammte aus einer Waffe, die auch bei einem Mord vor drei Jahren benutzt worden war – einem Fall, der nie aufgeklärt wurde.
Auf dem Handy fand sich nur ein einziger gespeicherter Kontakt: „Chef“. Keine Nummer, nur eine verschlüsselte Messenger-App.
Als die IT-Experten versuchten, auf die Chats zuzugreifen, erschien eine Nachricht:
„Zu spät. Er war nur ein Bote.“
Reinhardt wusste sofort, was das bedeutete: Jemand wollte ihnen zeigen, dass er ihnen immer einen Schritt voraus war.
Am Schlüsselbund fanden sie einen alten Wohnungsschlüssel. Eine Recherche ergab, dass er zu einem unscheinbaren Mietshaus in Neukölln gehörte – offiziell seit Monaten unbewohnt.
Die Wohnung war leer. Kein Möbelstück, kein Staub, als hätte jemand den Raum vor Kurzem gründlich gereinigt.
Nur ein einziger Gegenstand lag auf dem Boden: eine Mappe, die den Titel trug: „Projekt Spreebogen“.
Darin Pläne für ein milliardenschweres Bauprojekt – mit denselben Firmen im Hintergrund, über die Clara vor ihrem Tod recherchiert hatte.
Die Adresse in der Mappe führte Reinhardt und Seidel zu einem heruntergekommenen Industriegebiet am Rand der Stadt. Zwischen rostigen Zäunen und leeren Lagerhallen lag eine schmale Zufahrtsstraße, die direkt zur Spree führte.
„Sieht verlassen aus“, murmelte Seidel.
„Zu verlassen“, erwiderte Reinhardt.
Kaum hatten sie den Wagen abgestellt, hörten sie hinter sich das Klicken einer Waffe.
„Waffen runter, langsam umdrehen.“
Drei maskierte Männer standen da, bewaffnet, schwarz gekleidet. Einer trat vor und riss Reinhardt die Mappe aus der Hand.
„Das gehört nicht euch.“
Doch bevor jemand reagieren konnte, ertönte ein einzelner Schuss – aus der Ferne. Einer der Maskierten sackte zusammen, der Rest wich zurück.
Aus dem Schatten einer Halle trat eine Frau – schwarze Lederjacke, fest entschlossener Blick.
Reinhardts Herz setzte kurz aus.
„Clara?!“

Es war unmöglich. Clara Weber war seit Monaten tot – er hatte ihre Leiche gesehen.
Doch die Frau vor ihm war lebendig, atmete schwer und zog Reinhardt grob an sich.
„Keine Zeit für Fragen. Wenn ihr hierbleibt, seid ihr tot.“
Sie führte sie durch ein Labyrinth aus Lagerhallen bis zu einem alten Lieferwagen. Drinnen erklärte sie hastig:
„Ich habe meinen Tod inszeniert. Sie waren zu nah dran. Mertens war nur die Spitze. Das Bauprojekt ist größer, als ihr denkt – und es gibt Leute, die dafür über Leichen gehen.“
Seidel starrte sie an. „Warum bist du dann zurückgekommen?“
Clara sah Reinhardt direkt in die Augen. „Weil sie jetzt nicht mehr nur hinter mir her sind – sondern hinter euch.“
Clara fuhr den Lieferwagen durch enge Seitenstraßen, bis sie in einer verlassenen Tiefgarage zum Stehen kam.
„Hier sind wir vorerst sicher“, sagte sie, doch Reinhardt hörte den Zweifel in ihrer Stimme.
Seidel versuchte, den Überblick zu behalten. „Wer weiß noch, dass du lebst?“
„Nur ein paar Leute, denen ich vertraue – dachte ich zumindest.“ Clara sah aus dem Fenster, als würde sie etwas erwarten. „Einer von ihnen hat mich verraten. Sonst hätten sie uns heute nicht gefunden.“
Reinhardt ging die Liste ihrer möglichen Verbündeten im Kopf durch – und blieb bei einem Namen hängen, der ihn frösteln ließ: Krüger, der Kollege, der schon im ersten Fall verdächtig war.
Bevor sie weiterreden konnten, vibrierte Seidels Handy. Eine Nachricht, nur ein Satz:
„Ihr lauft direkt in die Falle.“ – Absender unbekannt.
„Verdammt“, murmelte Reinhardt. „Sie wissen, wo wir sind.“
Noch ehe sie den Wagen starten konnten, dröhnten Motorengeräusche durch die Garage. Zwei schwarze SUVs blockierten den Ausgang, Männer sprangen heraus – dieselben maskierten Gestalten wie zuvor.
Clara griff unter den Fahrersitz, zog eine Pistole hervor und feuerte zwei Schüsse in die Decke. Das Echo hallte wie ein Donnerschlag, während Reinhardt und Seidel die Gelegenheit nutzten, um hinter eine Betonwand zu hechten.
„Wir kommen hier nur raus, wenn wir sie ablenken“, rief Clara. „Ich locke sie weg, ihr nehmt den Notausgang!“
Reinhardt packte sie am Arm. „Vergiss es, wir bleiben zusammen.“
Clara schüttelte den Kopf. „Wenn sie mich kriegen, ist alles vorbei. Aber wenn sie euch kriegen… dann stirbt die Wahrheit mit euch.“
Der Lärm in der Tiefgarage war ohrenbetäubend – Schüsse hallten, Reifen quietschten, Stimmen schrien durcheinander. Clara stieß Reinhardt weg, sprang auf den Fahrersitz und riss den Lieferwagen herum. Mit quietschenden Reifen raste sie auf die SUVs zu, zwang die Angreifer auseinander.
„Los, raus hier!“, schrie sie aus dem offenen Fenster.
Reinhardt und Seidel rannten zum Notausgang, warfen sich durch die schmale Tür ins Freie. Hinter ihnen dröhnte der Motor des Lieferwagens – dann ein dumpfer Aufprall, gefolgt von splitterndem Glas.
Als sie sich umdrehten, sahen sie nur noch Rauch, der aus der Tiefgaragenzufahrt quoll. Kein Wagen. Keine Clara.

Sie liefen durch den kalten Nebel der Straßen, immer wieder nach hinten blickend. Doch niemand folgte ihnen – noch nicht.
„Glaubst du, sie lebt?“, fragte Seidel atemlos.
Reinhardt schwieg. Er wollte nicht lügen.
Ihr nächstes Ziel war klar: Krüger finden. Wenn er der Verräter war, konnten sie über ihn vielleicht wieder an Clara herankommen.
Doch als sie seine Wohnung erreichten, fanden sie die Tür offen. Drinnen: Chaos. Umgestürzte Möbel, zerrissene Unterlagen – und ein Handy auf dem Boden, das noch eine Aufnahme abspielte.
„Sie wissen, dass du mit ihnen geredet hast. Lauf.“ – Dann ein Schuss.
Kaum hatte Reinhardt das Handy ausgeschaltet, krachte irgendwo im Treppenhaus eine Tür. Schritte – langsam, schwer.
„Wir müssen weg“, zischte Seidel.
Sie schlüpften durch den Hinterausgang, doch im schmalen Hof stand bereits ein Mann. Groß, muskulös, schwarzer Mantel, Handschuhe – und in der Hand eine schallgedämpfte Pistole.
Reinhardt kannte diesen Typus: kein Schläger von der Straße, sondern ein Profi. Ein Auftragskiller.
„Ihr zwei seid teurer als gedacht“, sagte er mit tiefer Stimme. „Aber Befehle sind Befehle.“
Ein Schuss pfiff an Reinhardts Ohr vorbei. Sie rannten los, durch einen schmalen Durchgang in die Straßenschluchten Neuköllns. Der Killer folgte ihnen ohne Hast – wie jemand, der genau wusste, dass seine Beute ihm nicht entkommen konnte.
Sie schafften es in eine U-Bahn-Station. Menschenmengen, Gedränge – ideal, um unterzutauchen.
Doch als der Zug einfuhr, sah Reinhardt im letzten Waggon ein bekanntes Gesicht: Clara.
Er stieß Seidel an. „Da! Letzter Wagen!“
Sie drängten sich durch, doch die Türen schlossen, bevor sie einsteigen konnten. Clara stand im Inneren, presste einen Zettel an die Scheibe.
Darauf nur vier Worte:
„Er ist der Boss.“
Der Zug fuhr an. Reinhardt spürte, wie sich ein kalter Knoten in seinem Magen bildete. Wenn Clara Recht hatte, dann war der wahre Kopf hinter allem jemand, den sie noch gar nicht ins Visier genommen hatten – und der vermutlich wusste, dass sie nun zu nah dran waren.
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