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Es war tiefster Herbst, als Lina beschloss, allein in den Wald zurückzukehren. Der gleiche Wald, in dem sie vor Jahren als Kind einen einzigen Sommer verbracht hatte – bei ihrer Großtante Marla, deren Haus seither niemand mehr betreten hatte. Die Bäume wirkten dichter als in ihrer Erinnerung, als wären sie über die Jahre enger zusammengerückt, um ein Geheimnis zu bewahren, das besser nicht gelüftet werden sollte.

Der Pfad war kaum noch zu erkennen. Moos bedeckte die morschen Holzbohlen der Brücke, die über den schmalen Bach führte, und selbst das Geräusch ihrer Schritte klang gedämpft, als würde der Wald sie nicht willkommen heißen. Doch da war es: das Haus.

Versteckt zwischen Eichen und Tannen, halb vom Laub verschluckt, stand es da wie ein vergessener Gedanke – das Dach eingesunken, die Fenster leer wie blinde Augen. Und doch wirkte es nicht tot. Eher so, als würde es auf sie warte

Im Flur war es kälter als draußen. Die Fensterläden standen offen, doch kein Wind bewegte die vergilbten Gardinen. Lina zog ihre Jacke enger um sich, als sie den Blick über die Wand schweifen ließ – und dort zum ersten Mal die eingeritzten Worte sah.

„Du bist wieder hier. Du wirst dich erinnern.“

Sie trat näher. Die Buchstaben waren tief ins Holz geritzt, mit zittriger Hand, vielleicht mit einem Messer. In der Ecke des Raumes lagen Splitter einer alten Kaffeetasse, daneben eine halb angezündete Kerze. Alles wirkte, als hätte jemand gerade erst das Zimmer verlassen. Und dennoch: Staub bedeckte alles, als wäre das hier seit Jahren unberührt.

Im Wohnzimmer fand sie weitere Worte. An der Rückseite des Kamins, kaum sichtbar im Dämmerlicht, stand:

„Ich habe dich gesehen. Im Spiegel. Damals.“

Ein kalter Schauder kroch über Linas Nacken. Diese Sätze – sie sprachen nicht in Rätseln. Sie sprachen zu ihr. Sie beschrieb niemanden sonst. Und plötzlich tauchten Fragmente auf, Bruchstücke aus einer fast vergessenen Kindheit: das Knarren der alten Treppe bei Nacht, das unheimliche Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein, obwohl niemand da war.

Im oberen Stockwerk, in Marlas altem Schlafzimmer, war das Flüstern am deutlichsten. Kaum hörbar, wie ein Windzug in den Gedanken. Doch Lina verstand es. Es war kein Ton, sondern ein Gefühl. Eine Botschaft in ihr selbst.

Sie trat an den großen Spiegel neben dem Schrank. Ihr Blick traf auf ihr blasses Gesicht – doch im Hintergrund spiegelte sich etwas, das nicht da war: ein kleiner, in sich zusammengesunkener Körper auf dem Bett. Bewegungslos. Und neben dem Bett: eingeritzte Worte an der Wand.

„Ich habe getan, was nötig war.“

Mit zitternden Schritten wandte sie sich vom Spiegel ab und trat näher an das Bett heran. Der Raum roch nach Staub und altem Parfüm, süßlich und schwer, wie eine Erinnerung, die zu lange in der Luft hing. Dort, wo im Spiegel ein Körper gelegen hatte, war in Wirklichkeit nichts – nur eine eingedrückte Matratze, als hätte dort noch vor Kurzem jemand geschlafen.

Lina setzte sich. Ihre Hand glitt unbewusst über die Bettkante, bis sie auf etwas Hartes stieß. Ein Messer – klein, rostig, mit Holzgriff. In den Griff war ein einzelner Buchstabe geritzt: L.

Sie wich erschrocken zurück. In diesem Moment verstummte das Flüstern. Stattdessen hörte sie eine Stimme. Klar. Nah. Ihre eigene Stimme – aus dem Inneren ihres Kopfes. „Du hast es gesehen. Jetzt erinnerst du dich.“

Ein weiteres Bild drängte sich auf. Sie, als Kind, weinend im Flur, Blut an den Händen. Tante Marla, reglos am Boden. Und die Stimme, die damals schon flüsterte: „Du warst in Gefahr. Sie wollte dich fortschicken. Du konntest nicht gehen.“

Lina keuchte. Der Verstand suchte Halt, doch die Erinnerungen waren da. Klar. Unerbittlich. Nicht das Haus hatte sie gerufen – sondern das, was darin verschlossen war: ihre eigene Wahrheit.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Nicht aus Trauer. Nicht aus Schuld. Sondern aus der kalten Gewissheit, dass sie nie gegangen war. Nicht wirklich.

Als sie das Haus verließ, hinterließ sie keine Spur. Die eingeritzten Worte an den Wänden – sie waren ihre eigenen. Lange vor dem Heute. Und das Flüstern?

Es würde bleiben.
Denn manche Stimmen im Wald sprechen nicht. Sie warten – bis du dich erinnerst.

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