Der Riss war kein Spalt im Raum – er war ein Schnitt durch Realität. Als Linda hindurchging, verlor sie jedes Gefühl für Zeit, Richtung, Körper. Es war, als würde ihr Geist durch eine andere Frequenz gezogen. Ein stilles Rauschen begleitete sie, gepaart mit Bildern, die nicht ihre eigenen waren: brennende Himmelskörper, schwebende Städte, Kinder ohne Schatten, Götter aus Licht, die weinten.
Dann wurde alles plötzlich still.
Sie stand auf einer flachen Ebene. Der Himmel darüber war flüssig – wie ein See, in dem Sterne trieben. Kein Wind. Kein Geräusch. Und in der Mitte der Ebene: Es.
Nicht groß. Nicht schrecklich. Kein Monstrum, kein Dämon.
Ein Kind.
Ein Kind mit weißer Haut, ohne Gesicht, dessen Körper aus Lichtadern bestand, die rhythmisch pulsierten. Es saß im Schneidersitz, ruhig, still – aber die Luft um es herum vibrierte, als wäre der Raum selbst nervös.
Linda wusste sofort: Das war es. Das Wesen.
Die Quelle der Kuppel.
Der Träumer.
Als sie sich näherte, hob es den Kopf – obwohl es keine Augen hatte. Doch Linda spürte den Blick. Nicht auf ihrem Körper, sondern in ihrem Inneren.
Und dann sprach es.
Nicht mit einer Stimme, sondern mit allen Stimmen gleichzeitig. Alte Sprachen. Kinderstimmen. Ihre eigene.
„Du hast lange genug beobachtet. Jetzt sollst du sehen.“

Und mit einem Schlag wurde die Ebene durchlässig – und unter ihr zeigte sich etwas Gewaltiges:
Ein Netz aus Kuppeln. Überall. Tausende Städte. Orte. Parallelwelten. Jeder ein Test. Jede ein Versuch.
„Wir träumen eure Form. Wir tasten nach Verbindungen. Ihr nennt es Spiel. Für uns ist es: Selektion.“
„Warum Lily?“ flüsterte Linda. „Warum ein Kind?“
„Kinder sind offen. Nicht fixiert. Formbar. Ihre Gedanken sind weich genug, um uns zu fühlen.“
„Und ich?“
„Du bist der Fehler. Die Variable. Der Widerstand, den wir nicht vorhergesehen haben. Das macht dich… interessant.“
Linda trat näher. „Ich will Lily zurück. Ganz. Nicht verändert. Nicht als Werkzeug.“
Das Wesen senkte den Kopf.
Für einen Moment war absolute Stille.
Dann:
„Dann musst du uns verstehen. Und eine Entscheidung treffen.“
Der Boden unter ihr begann zu beben. Bilder flackerten um sie herum – unendliche Leben, unzählige Entscheidungen, alle Varianten dessen, was Chester’s Mill war und sein könnte.
Und aus der Tiefe kam eine Frage – langsam, schwer, endgültig:
„Willst du sie retten – oder uns stoppen?“
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